Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen
pt 2 Die Veränderung der Geschäftsgrundlage
pt 3 Das Ende der Unvergleichbarkeit
pt 4 Die Gesellschaft im Innersten der Identität
pt 5 Die Beck'sche Standardindividualisierung
pt 6 John C. Murray SJ: Intoleranz, wenn irgend möglich
11/08'10 Prof. Beck wird neuer Ehrendoktor der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Dieses Buch hat mehrere Fassungen durchlaufen, die alle Gegenstand intensiver Gespräche waren. Insbesondere Natan Sznaider, Edgar Grande und Christoph Lau ("Herrschaftssoziologie") haben alle "Geburtsstadien" gelesen und intensiv mit mir durchdiskutiert. Ihre Kritik, Ergänzungen und Literaturhinweise haben nicht zuletzt zu immer neuen Überarbeitungen angespornt. Früh hat Navid Kermani sich die Mühe gemacht, meine Grundthese mit mir zu besprechen. Dasselbe gilt für Wolfgang Bonß und Sven Hillenkamp. Eine öffentliche Diskussion mit Arnold Angenendt und natürlich sein Buch "Toleranz und Gewalt – Das Christentum zwischen Bibel und Schwert" haben meine Argumentation sehr geprägt. Auch dieses Mal wieder ist die Formung des Gedankens im Lebensgespräch mit Elisabeth Beck-Gernsheim wesentlich eingeflossen.
Ohne jegliche Mitschuld an meinen Übertreibungen und Auslassungen sei jedem einzelnen von Herzen gedankt.
In Zeiten wie diesen, in denen die Sozial- und Geisteswissenschaften wie selten in ihrer Geschichte bedroht sind, ist es wichtig, Zeugnis dafür abzulegen, dass dieser Abenteuerausflug in die faszinierenden Unübersichtlichkeiten der vulkanischen Religionslandschaften ohne den kreativen Diskussions- und Forschungszusammenhang des Sonderforschungsbereichs "Reflexive Modernisierung", den die Deutsche Forschungsgemeinschaft großzügig finanziert, niemals möglich geworden wäre.
Insofern gilt der DFG und all denjenigen, die diese kooperative Praxis sozialwissenschaftlicher Neugierde ermöglicht haben, mein herzlichster Dank.
Ist es möglich, ein Buch mit dem Eingeständnis des Scheiterns zu beginnen? Ja, es ist möglich und in diesem Fall nötig, auch wenn die Ironie der Frage unverkennbar ist, denn sie hat ja bereits beantwortet, wonach sie fragt. Und darin drückt sich nicht Hochmut aus (wie mancher vielleicht vermutet), nicht ein eitles Spiel mit den eigenen Unfähigkeiten und Blindheiten. Gewiss gehört ein gutes Stück metaphysischer Ahnungslosigkeit dazu, um das leichtsinnige Wort vom "eigenen Gott" zu prägen und zu "entfalten" (was immer das heißen mag).
Prinzipiell jedoch verhält sich das Religiöse zum Soziologischen wie das Feuer zum Löschwasser.
Ich, Soziologe, der ich bin, habe im Glauben an die Erlösungskraft der soziologischen Aufklärung das Säkularismus-Idiom im Blut. Die Prämisse der Säkularisierung, pointiert gesagt: die Vorstellung, dass mit fortschreitender Modernisierung das Religiöse sich selbst erledigt, kann nicht ohne weiteres, auch wenn diese Prognose historisch widerlegt wäre, aus dem soziologischen Denken herausoperiert werden.
In der Soziologie gelten solche Lücken nicht als Mangel, sondern als Ausweis von Wissenschaftlichkeit. [...]
Aber ein solcher Blick ist säkularisierungskonform.
Er macht seine Leitidee sichtbar: die Entzauberung des Religiösen.
Und er macht unsichtbar, unverstehbar, was zunehmend die Wirklichkeit bestimmt:
die Wiederverzauberung durch Religion. [...]
Die niederländische Jüdin Etty Hillesum hat in ihrem Tagebuch ein Protokoll des gesuchten und gefundenen "eigenen Gottes" vorgelegt. Die handschriftlichen Aufzeichnungen beginnen im März 1941 und enden im Oktober 1943. Am Anfang des Tagebuchs führt die junge Frau das Leben einer normalen Bürgerin, doch bedroht sie der nationalsozialistischen Rassenwahn existenziell. In dem Maße, wie sich ihr äußeres Leben verengt, wendet Etty Hillesum sich nach innen. Sie liest Rilke, Dostojewski, Puschkin, Augustinus und immer wieder die Bibel. Langsam und fast unmerklich wird das Selbstgespräch zu einem Gottgespräch.
Etty Hillesum entwickelt einen besonderen Stil, wenn sie zu Gott spricht.
Sie redet zu Gott wie zu sich selbst. Sie spricht ihn unmittelbar an, ohne eine Spur von Befangenheit. Und Selbstentdeckung und Gottentdeckung, Selbstfindung und Gottfindung, Selbsterfindung und Gotterfindung fallen wie selbstverständlich zusammen.
Ihr "eigener" Gott ist nicht der Gott der Synagogen oder der Kirchen oder der "Gläubigen", die sich von "Ungläubigen" abgrenzen.
"Ihr" Gott weiß nichts von der Häresie, den Kreuzzügen, den unsäglichen Grausamkeiten der Inquisition, von Reformation und Gegenreformation oder religiös motiviertem Massenmordterrorismus.
Ihr eigener Gott ist theologiefrei, dogmenlos, geschichtsblind und vielleicht auch deshalb barmherzig und hilflos.
Sie sagt:
"Wenn ich bete, bete ich nie für mich selbst, sondern immer für andere, oder aber ich führe einen verrückten oder kindlichen oder todernsten Dialog mit dem, was in mir das Allertiefste ist und das ich der Einfachheit halber als Gott bezeichne."
Etty Hillesum ist Jüdin. Aber sie ist in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem das keine Rolle spielte.
Sie wird als Jüdin ins KZ abtransportiert und vernichtet, aber sie nimmt die jüdische Identität nicht an. Sie ist aber auch nicht zum Christentum konvertiert. Etty Hillesum erfährt und praktiziert eine Radikalform des eigenen Gottes: keine Synagoge, keine Kirche, keine Glaubensgemeinschaft. War Etty Hillesum Nicht-Jüdin im Leben und Jüdin im Tod?
Selbst im Kerker des Lagers ist Etty Hillesum anwesend, ohne dazuzugehören.
Sie verwendet dafür die Metapher des "Schiffbruchs":
Ertrinkende drängeln sich um das eine Stück Treibholz im unendlichen Ozean.
Dieses "Nichtdazugehören" machte, wie Natan Sznaider schreibt, die Juden zu den Kosmopoliten Europas, aber auch zu den wehrlosen Opfern der Nazis."Und dann rette sich, wer kann, den anderen beiseite stoßen und ihn ertrinken lassen, das ist alles so unwürdig, und drängeln mag ich auch nicht. Ich gehöre wohl eher zu den Menschen, die lieber noch eine Weile mit zum Himmel erhobenen Augen auf dem Rücken im Ozean treiben und dann in ergebener Gelassenheit versinken."
"Die europäischen Juden waren gleichzeitig assimiliert, orthodox, jüdisch und nicht-jüdisch" (Sznaider 2008: "Gedächtnisraum Europa" S. 96). Und es ist gerade dieses Nichtdazugehören Etty Hillesums, das auf die ontologische Bosheit des antisemitischen Bewusstseins und die Entschiedenheit des antisemitischen Staates traf, diese transnationalen jüdischen Kulturen und Gesellschaften im Herzen Deutschlands und Europas auszumerzen.
[...] Die ruhigen Sätze ihres Tagebuchs, die "in einer wild durcheinander geworfenen Welt" sich der Quellen des eigenen Lebens vergewissern wollen, suchen sich ihre Leser, entzünden Leben, erschrecken, verstören, beglücken.
Fast ungewollt, beiläufig gelingt es Etty Hillesum, in der Schriftform ihrer Selbstbeobachtung und Selbstreflexion etwas allgemeines sichtbar zu machen: "Stil ist Gott." Dieses Wort Gottfried Benns gewinnt hier eine wörtliche Bedeutung. Der Stil, den Etty Hillesum in ihren Tagebüchern praktiziert, ersetzt nicht Gott (wie Benn dies meint). Vielmehr spricht Etty Hillesum in ihrem Tagebuch zu Gott wie zu sich selbst.
Der Stil schafft die Aura der unmittelbaren Teilhabe des Lesers am Gebet, das als Gespräch in der stummen Anwesenheit des hilflosen Gottes geführt wird. [...]
Und genau das ist das Geheimnis des Hillesums-Tagebuch-Stils: Auch der Leser erlebt sich nicht nur als Hörender, sondern wird im Lesen als Erzählender in das Selbstgespräch von Etty Hillesum einbezogen. Er oder sie erzählt sich selbst, also Etty Hillesum, also Gott, sein Leben. So stellt sich in der Innerlichkeit des Tagebuchs ein Stück Öffentlichkeit her. Dabei sind alle Spuren der Anstrengung von "Literatur" getilgt. Auf wundervolle Art gelingt es Etty Hillesum, die Authentizität der Eigentlichkeit und der Überschreitung zu erzeugen.
Ihre Sprache ist diese Überschreitung, diese Unmittelbarkeit der Transzendenz.
Diese unprätentiösen Sätze, das Dahinfließen des Selbst- und Gottgespräches ermöglicht das Eintauchen in den Horizont des anderen eigenen Lebens – Stil-Stunden, in denen Innen und Außen eins werden.
Eine Theologie des eigenen Gottes (die ich weder schreiben kann noch will) müsste diese Verbindung zwischen dem Wissen um das menschliche Selbst und dem Wissen um die Präsenz Gottes im eigenen Leben ebenso wie die Verbindung zwischen der Liebe des Anderen – des "religiösen Anderen", des "nationalen Anderen", des "Nachbarn", des "Feindes" – und der Liebe zu Gott und die Verbindung des hilflosen Selbst mit dem hilflosen eigenen Gott ins Zentrum stellen. Daraus geht hervor, Religiosität gründet darin, dass beide – der eigene Gott und das eigene Leben – ein unbegreifliches Mysterium sind: Nur das Tragische hat Dauer.
"Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich diese Zeit wie eine geschichtliche Epoche überblicken, deren Beginn und Ende ich sehen kann und die ich auch in das Ganze 'einzuordnen' weiß.
Und darum bin ich so dankbar: dass ich nicht im geringsten verbittert und nicht voller Hass bin, sondern dass in mir eine große Gelassenheit herrscht, die keine Gleichgültigkeit ist, und dass ich diese Zeit bis zu einem gewissen Grad sogar verstehen kann, so sonderbar das auch klingen mag!
[...] Am deprimierendsten ist, dass es unter den Leuten, mit denen ich arbeite, fast niemanden gibt, dessen innerer Horizont sich erweitert hätte.
Sie leiden auch nicht wirklich. Sie hassen.
Sie sind in bezug auf ihre eigene Position optimistisch verblendet, sie intrigieren und verteidigen ehrgeizig ihre Pöstchen, das Ganze ist ein riesiger Saustall, und es gibt Augenblicke, in denen ich meinen Kopf mutlos auf die Schreibmaschine lege und sagen möchte: Ich kann das nicht mehr aushalten. Aber es geht doch immer weiter, und ich lerne immer mehr über die Menschen hinzu."
(1981, hg. und eingeleitet von J.G. Gaarlandt: "Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-43")
S. 25) Liebe Etty, Sie konnten nicht ahnen, was Sie angerichtet haben, Sie und die vielen anderen, die ihr Leben in die Hände ihres eigenen Gottes legen. Der "eigene Gott" ist nur praktizierbar, lebbar, hoffbar, vergegenwärtigbar, wenn Gott "eigen" wird, d.h., wenn Gott, Welt und Mensch nicht mehr nur als Einheit gedacht werden können, wenn also das "Religiöse" aus dem öffentlichen Raum nach innen gekehrt wurde.
Diese Trennung, die den Unterschied zwischen Religion und Religiosität markiert, haben Sie radikalisiert, Sie haben Gott in ihre eigenen Hände genommen.
Denn vorher war man entweder Katholik oder Protestant oder Jude (oder Atheist oder Häretiker).
Man wurde in die "Amtskirche" hineingeboren, wählte, wie es die Religion verlangte, zeugte Kinder und erzog sie im Geiste der Religion, in der man aufgezogen worden war. Man zog in den Krieg mit gesegneten Waffen, selbst wenn auf der Seite des Feindes gleichfalls Katholiken, Juden oder Protestanten kämpften. Ausgerechnet in einer vom Wahnsinn des Terrors moralisch verwüsteten Welt sind Sie auf die Idee verfallen, etwas mehr verlangen zu wollen, über diese Fügsamkeit predigende Kollektivreligiosität hinaus: so als könnte man das eigene Leben, auch dessen religiöse Dimension, selber in die Hand nehmen. Eine höchst riskante und folgenreiche Idee!
Und natürlich stellt sich unerbittlich die Frage: Was ist das "Eigene" am "eigenen" Gott?
Und ist der eigene "Gott" überhaupt Gott oder nur eine Vergötzung des Eigenen?
Der eigene Gott ist vor allem viele "Kein": kein Label, kein Underdog-Ausweis, keine doppelmoralische Konvention und vor allem kein "Schon-immer", kein Absolutes. Der eigene Gott ist teilbar und zusammensetzbar wie das Individuum selbst, Garant der Unabhängigkeit des Individuums und der Unabhängigkeit Gottes.
Liebe Etty, tatsächlich taucht Ihr ungezwungener Umgang mit dem eigenen Gott oft in die Beziehungssphäre einer Liebesbeziehung ein. Ja, manchmal bin ich mir als Leser unklar, ob Sie Ihren männlichen oder ihren göttlichen Geliebten ansprechen. Und Sie verfangen sich im Freiheitsparadox der Liebe. (Das Jean-Paul Sartre 1979 in "Das Sein und das Nichts" für die irdische Religion der Liebe nachgezeichnet hat.) Wie der Freiheit des geliebten Menschen wollen wir uns der Freiheit des eigenen Gottes bemächtigen.
Wenn man allerdings die Freiheit Gottes nicht als einen Liebesautomaten denkt, der alle Wünsche erfüllt, sondern diese Freiheit ernst nimmt, besteht die Möglichkeit göttlicher Gleichgültigkeit, Ablehnung, Ignoranz. Warum sollte Gott den Menschen lieben, wenn er so frei ist und sein soll wie der ihn liebende Mensch? Kann man aber einen "eigenen" Gott beheimaten, in Schutz nehmen vor einer Welt, die im Begriff ist, sich selbst zu zerstören, wenn man ihm die Freiheit der Nichtliebe oder, radikaler noch, des Hasses zugesteht?
Vielleicht ist der Mensch nur allzu menschlich im Umgang mit dem eigenen Gott: Er will von der göttlichen Freiheit geliebt werden und verlangt, dass es diese Freiheit Gottes als solche nicht mehr gibt. Er will, dass die Freiheit Gottes sich selbst dazu bestimmt Liebe zu werden – und dies nicht nur zu Beginn des Abenteuers, sondern jeden Augenblick. Wir wollen den eigenen Gott an die Ketten unserer eigenen Wünsche, Traumata, Hysterien, Ängste und Hoffnungen legen, und gleichzeitig wollen wir die Ketten selbst in den Händen behalten. Wie aber kann man der Versuchung entkommen, den eigenen Gott zum "Kuschelgott" zu erniedrigen?
Ich könnte diese Schilderung über viele Seiten fortsetzen. Doch was Sie nicht für möglich halten werden, Etty: Ihre Geschichte des eigenen Gottes ist alltäglich geworden, platt, trivial, auf den Hund gekommen in millionenfacher Wiederholung. Zwischen Gott und Götzen wird nicht mehr unterschieden. Man bewegt sich in einer Welt der multireligiösen Zitate, deren Herkunft und Sinn man nicht kennt.
Nur selten spürt man den Hauch der fremden Vergangenheit, mit der man die Innenwände des "eigenen Gottes" religiös tapeziert. Ich greife nur einen für den New-Age-Markt bestimmten Katalog heraus – denn der eigene Gott ist käuflich geworden: Hier finden sich Angebote, die die Kraft der Kristalle preisen, neben der erlernbaren Kompetenz Birken zu umarmen, um geistige Energien freizusetzen, oder Angebote, die verraten, wohin man gehen und welche Formulare man ausfüllen muss, um wiedergeboren zu werden.
Natürlich haben all diese Reisen in das unbekannte Innerste der Seele ihren Preis. Und es ist kaum überraschend, dass es, wie es bereits Erotik-Messen, inzwischen auch Esoterik-Messen gibt, die kein religiöses Sinnbedürfnis unbeantwortet lassen – wenn man für bare Münze nimmt und mit solcher bezahlt, wie die sich entfaltende parareligiöse Weltdienstleistungsgesellschaft den Himmel auf Erden verspricht.
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