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monotheistische Großidentitäten,
pragmatisches Entdogmatisieren
und: Die Einheit von Religion und Glauben zerbricht
Es ist die Radikalisierung der freien Religionswahl, die die institutionalisierten "Religionsklassen" und "Volkskirchen" der Ersten Moderne – beispielsweise entweder katholisch oder evangelisch – aufhebt, aushöhlt, in jedem Fall schwächt und für individuelle Entscheidungen öffnet.
2. Damit zeichnet sich nicht das Ende der Religion ab. Es findet eine Renaissance einer neuartigen, subjektiven Glaubensanarchie statt, die immer weniger in die dogmatischen Gerüste passt, die die institutionalisierten Religionen bereitstellen. Die Einheit Religion und religiös, von Religion und Glauben zerbricht. Ja, Religion und Glauben treten in Widerstreit.
In den westlichen Gesellschaften, die durch eine institutionalisierte Individualisierung (in Gestalt von an das Individuum adressierten zivilen, politischen und sozialen Grundrechten), aber auch durch die Individualisierungsdynamik des Arbeitsmarktes gekennzeichnet sind, die also die Autonomie des Individuums als Prinzip verinnerlicht haben, schafft sich der einzelne Mensch in immer größerer Unabhängigkeit diejenigen Glaubenserzählungen – den "eigenen" Gott – die zum "eigenen" Leben und "eigenen" Erfahrungshorizont passen.
Es ist der Sieg, nicht das Ende der Moderne
In Europa wird viel Aufhebens um die Gefahren – um die bevorstehende "kulturelle Katastrophe" – gemacht, die dieses chaotische Durcheinander und Gegeneinander von (institutionalisierter) Religion und (individualisiertem) Glauben mit sich bringen. Zweierlei ist dabei wichtig: Zum einen ist dies keineswegs ein Zeichen des Endes der Moderne, es handelt sich vielmehr um den Sieg der Moderne. Es ist die radikalisierte (Religions-)Freiheit, die sich nun gegen die familien-, klassen-, ständisch, ethnisch, milieugebundene Religionsvererbung wie gegen die vorgegebene Kollektivität religiöser Blockidentitäten wendet.
Es ist zum anderen eine Tatsache, dass Individuen ihre Kompetenzen als spirituelle und religiöse "Heimwerker" (Ronald Hitzler) im Umgang mit religiösen Symbolen ausbilden, die fast immer aus dem Kontext herausgelöst wurden, der einst ihre Lesbarkeit garantierte. Dagegen Sturm zu laufen, vernebelt nur die Situation.
Es ist die Individualisierung des Glaubens als Realität zu akzeptieren und nicht einer Zeit hinterherzutrauern, in der "intakte" religiöse Milieus (Familien, Klassen, Ethnien, Stände, Nationen), die klar voneinander abgegrenzt und gesellschaftlich identifizierbar waren, monotheistische Großidentitäten ermöglichten.
Allerdings ist die pragmatische Entdogmatisierung der Religionen ambivalent, öffnet sie doch der Banalisierung und Trivialisierung Tür und Tor: Jedes Wellness-Hotel schmückt sich mit buddhistischen Weisheiten, religiöses Analphabetentum breitet sich aus, Atheisten wissen nicht einmal, an welchen Gott sie nicht mehr glauben.
Die Individualisierung der Religion ist mit der Individualisierung sozialer Klassen und der Individualisierung der Familie vergleichbar. Erst der Zusammenhang zwischen diesen (meist isoliert voneinander betrachteten) Dimensionen macht gesellschaftlich Individualisierung aus, die den "Aggregatzustand", die Qualität von Gesellschaft tiefgreifend verändert.
In allen diesen Schlüsselkategorien des sozialen Lebens kommt es zu einer neuartigen inneren Vielgestaltigkeit, Widersprüchlichkeit und Unvorhersehbarkeit der Konstellationen.
Dadurch lösen sich alte institutionalisierte Schablonen, Gewissheiten und Leitbilder auf, und es entstehen Kombinationen von unterschiedlichen Symbolressourcen.
8. Die Individualisierung des Glaubens ist nicht gleichbedeutend mit Standardisierung. Ebensowenig wie die enttraditionalisierte Liebe und Sexualität zu individualisierter Liebe und Sexualität führt, im strikten Sinne, bringt die Enttraditionalisierung des Glaubens keine wirklich individuelle Vervielfältigung der Glaubenserzählungen hervor. Dagegen spricht allein schon die Warenförmigkeit der angebotenen "Religionsprodukte" und deren standardisierter Konsum. Die Individualisierung des Glaubens folgt also den Mechanismen der religiösen Symbolökonomie, die mehr und mehr von den Gesetzen des Marktes durchdrungen wird. So kommt es zu der Paradoxie, dass hochindividualisierte Glaubenskulturen, in denen jeder bzw. jede sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach die Authentizität der spirituellen Glaubenserzählung selbst zurechnet, aus einer Außenperspektive beobachtet, völlig standardisiert funktionieren.
Das individualisierte Glaubensmuster ist demzufolge das kollektive Standardbewusstsein, das ich als solches nicht mehr zu durchschauen vermag, weil es sich als individualisiertes Selbstbewusstsein versteht.
Was meint Standardisierung?
Ein Indikator für sie ist – zumindest in der europäischen Welt des Christentums – der empirisch nachweisbare Bedeutungszuwachs eines "Minimal-Credos". Dieses lässt sich wie folgt zusammenfassen: "Gott liebt dich, Jesus erlöst dich, du kannst geheilt werden!" Dies bedarf keiner theologischen Auslegung, muss sich vielmehr in persönlichen Glaubenserfahrungen und Glaubenspraktiken bewähren. In den Suchbewegungen des Glaubens
"verbindet sich diese 'Eindampfung der Lehre' mit der Ausbreitung emotionaler Formen der Religiosität. Sie fordern explizit dazu auf, den Intellekt 'auf den Rücksitz zu verbannen' und emotionalen Erfahrungen der Präsenz des Heiligen Geistes einen viel höheren Wert beizumessen. Dieser theologische Minimalismus, der den Transzendenzbezug auf die rein emotionale und personalisierte Erfahrung der Nähe zum göttlichen Wesen reduziert, erlaubt die effiziente Anpassung der religiösen Lehrgehalte an die vom modernen Individualismus erhobene Forderung nach persönlicher Selbstverwirklichung."
(Danièle Hervieu-Léger 2006: "In Search of Certainties. The Paradoxes of Religiosity in Societies of High Modernity" in "The Hedgehog Review" no. 8, "After Secularization" p. 59-68)
Die Kunstreligion folgt auf den Zusammenbruch der Wissenschaftsreligion, *) die ihrerseits eine Reaktion auf den Zusammenbruch der Religion darstellt (grob vereinfacht gesagt). Dabei wird "Kunst" zumeist als ein Exerzierfeld gedacht, auf dem quasi-religiöse Haltungen einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft eingeübt werden können. Im Kunsterlebnis kommt eine sakrale Aura zur Sprache, in dem sich das religiöse Empfinden einer säkularisierten Welt äußert und Geltung gewinnt. Darin drückt sich ein religiöser Dezisionismus aus, der auf der Paradoxie beruht, dass sich der glaubende Mensch den "eigenen" Gott schafft, dessen Selbstoffenbarung dem "eigenen" Leben subjektive Gewissheit und Erlösung verspricht. Man wird hier an den Ich-Philosophen Fichte erinnert, der das sich selbstsetzende Ich als Quelle aller transzendenten wie immanenten Einsichten und Gewissheiten begreift.
*) Der Begriff Wahrheit an und für sich scheint mir nicht sehr nützlich. Wir können nie wirklich sicher sein, was wahr ist, auch nicht mit den besten wissenschaftlichen Methoden. Wissenschaftlich gesehen muss Wahrheit immer eine Annäherung bleiben. Henry Gee hat das viel eloquenter ausgedrückt als ich es je könnte: Wissenschaft ist ihm nach die "Quantifizierung des Zweifels". Dies zeigt m.E. den Gegensatz zur Religion. Zweifel ist dort häufig etwas negatives, und ist er es nicht, geht es um dessen Überwindung oder den Umgang damit. Quantifizierung hingegen impliziert wie Wissenschaft eine Methode und ist kein Weltbild.
Shin) Wissenschaft ist kein Glaubenssystem, keine Ideologie und kein Weltbild, sondern ein Prinzip, eine Methode, wenn man so will ein Werkzeug. Das älteste und beste das wir haben.
Individualisierung war in weit zurückliegenden Jahrhunderten ein bloßer Wert, eine Idee, eine Ideologie. Doch das hat sich inzwischen zu einer institutionalisierten Moral verdichtet und kristallisiert, die machtvoll und effektiv die Grundlagen der modernen Welt jenseits dessen begründet, was Eric Hobsbawm die zwei Revolutionen des 19. Jh.s nennt: die Revolution, die zum modernen, demokratischen Nationalstaat führte, und die andere, die das hervorgebracht hat, was Max Weber den "Geist" des Kapitalismus genannt hat, welcher aus der protestantischen Arbeitsethik hervorgegangen ist. Beide – die nationalstaatliche Demokratie und der unternehmerische Kapitalismus – beruhen auf dem Prinzip des freien Individuums, das seine aufgeklärten Selbstinteressen vertritt, während es zugleich das Recht beansprucht, seine politische Stimme zu erheben (und selbstverständlich das Recht auf Privateigentum), und diese Rechte in den Arenen der demokratischen Polis verteidigt.
Individualisierung, aufs Engste mit dem Ethos des Christentums und der Moderne verbunden, bedeutet die Kultivierung des Eigensinns aller Menschen ohne Unterschied.
Dem subjektiven Missverständnis der Individualisierung liegt die Annahme zugrunde, wonach das Individuum, das um sich selbst kreist, auch Autor seiner Selbstumkreisung ist. Auf diese Weise wird verkannt, dass die Utopie des eigenen Lebens und damit die Utopie des eigenen Gottes in die institutionelle Tiefenstruktur der westlichen Welt eingebrannt sind. Auf den Punkt gebracht: Individualisierung muss klar unterschieden werden von Egoismus. Während Egoismus gewöhnlich als eine persönliche Attitüde oder Präferenz verstanden wird, meint Individualisierung ein makrohistorisches, makrosoziologisches Tiefenphänomen, das sich möglicherweise – aber nicht notwendigerweise – in Einstellungsveränderungen von Personen niederschlägt.
Das ist die Crux der Kontingenz, die durch die Individualisierung in die Welt kommt:
Es bleibt offen, wie die Individuen mit ihr umgehen.
Ähnlich wie Zygmunt Bauman und Anthony Giddens betone ich, dass Individualisierung missverstanden wird, wenn sie als ein Prozess verstanden wird, der aus einer bewussten Wahl oder der Präferenz des Individuums hergeleitet werden kann. Individualisierung wird tatsächlich den Individuen als Resultat der langen Geschichte moderner Institutionen auferlegt.
Das hat niemand so früh und so klar gesehen wie Émile Durkheim, der bereits vor hundert Jahren nachgezeichnet hat, wie die Heiligkeit der Religion auf die Heiligkeit des Individuums übertragen wird.
Individualisierung ist, wie gesagt, eine urchristliche Erfindung. Das Christentum hat von Anfang an den Einzelnen angesprochen – jenseits von Stand, Klasse, Ethnizität und Nation, und damit ist es moderner als viele seiner Gegner. Und doch sind paradoxerweise diese Grundlagen einer politischen Theologie des eigenen Gottes den christlichen Kirchen von außen aufgezwungen worden.
Die Proklamierung der christlichen Konzeption von der Würde und den Rechten des Menschen musste, wie auch der Ratspräsident der Evangelischen Kirche Dtl.s., Wolfgang Huber, betont, "vielfach gegen den Widerstand christlicher Kirchen und Gruppen durchgesetzt werden." Das gilt für Protestanten und Katholiken gleichermaßen: "Das päpstliche Lehramt betrachtet die Menschenrechtsideen als von der Reformation inspirierte 'zügellose Freiheitslehren' (Papst Leo XIII.), die mit dem Naturrecht ebenso unvereinbar seien wie mit der Lehrgewalt des kirchlichen Amtes. Die im dt. Protestantismus vorherrschende Auffassung 'sah in den Menschenrechten einen Individualismus am Werk, der die Sündhaftigkeit des Menschen und die Notwendigkeit einer stabilen staatlichen Ordnungsmacht verkenne.'" (Huber 1992, zitiert nach Angenendt 2007, Toleranz und Gewalt S. 117)
heißt es dagegen bei Sartre in "Das Sein und das Nichts". Sartres "Wir" meint die Europäer."Wir sind allesamt Katholiken,"
Bei der Taufe als christlichem Basisprinzip ist (mehr oder weniger offen) ein Widerspruch eingebaut: Die Souveränität der subjektiven Wahlentscheidung, das individuelle Bekenntnis zum Glauben, auf dem alles beruht, schließt die Preisgabe der Souveränität ein, die Ein- und Unterordnung in die vorgegebene Hierarchie und Orthodoxie der Glaubensgemeinschaft. Entsprechend kann man verschiedene Religionen (Katholiken, Protestanten, Buddhisten, Muslime, neue religiöse Bewegungen) danach unterscheiden, wie sie mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Individualisierung und Kollektivierung des Glaubens umgehen, wie "verkirchlicht" oder "nicht-verkirchlicht" sie also sind. Die Religiosität bzw. Spiritualität des "eigenen Gottes" wäre dann im Extremfall das stolze Selbstbewusstsein, vor Gott, für Gott, ein unverwechselbarer eigener Mensch zu sein, weder eingebunden in die Kirche noch in die Gemeinde.
Die christliche Individualisierung resultiert nicht in der Glorifizierung des Ich.
Sie besteht in der generellen Ermächtigung des glaubenden Individuums, das mit der christlichen Lehre zugleich eine Grenzen überwindende Gemeinsamkeit und Gemeinschaft stiftet. [...]
Der christliche Kult des Individuums kennt als oberstes Dogma die Autonomie der individuellen Erfahrung, des individuellen Gewissens (was man später dann sogar "Vernunft" nannte) und als obersten Ritus die freie Prüfung. Hier zeigt sich der elementare Widerspruch (Oder soll man sagen: die Ironie?) der auf dem individuellen Glaubensbekenntnis aufbauenden christlichen Orthodoxie: Die kirchliche Hierarchie, einschließlich der Inquisition, wird zur Brutstätte des modernen Individualismus, der an seinem vorläufigen Ende die Autorität und den Bestand der christlichen Kirchen, zumindest in Europa, gefährdet oder zur Redefinition des Christentums zwingt. Wer also versucht, die individualistische Moral der modernen Gesellschaft als Gegenspieler zur christlichen Moral darzustellen und diese als Rezept gegen jene zu verschreiben, begeht einen kapitalen Irrtum, denn er versucht, den Teufel des Individualismus mit dem Beelzebub der christlichen Moral des Individuums auszutreiben.
[...] Die Unterscheidung von Kirche und individuellem Glauben (wobei die Priorität auf den Glauben einzelner Christen, der immer einen ganz persönlichen, spezifischen und unmittelbaren Charakter hat, gelegt wird, die Autorität des Christentums also auf dem Treibsand individueller Frömmigkeit gründet) führt zu einer Verflüssigung der Grenzen.
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