January 21, 2011

In Europa noch immer eine Einheit: Kirche & Staat



Ulrich Beck: Der eigene Gott

pt 1 & pt 2 & pt 3 & pt 4 & pt 5 & pt 6 & pt 7 & pt 10


S. 190) Wahrnehmungsswitch raubt politikstiftende Gegensätzlichkeiten

Kosmopolitismus setzt die Dualismen und Antithesen, welche die Welt der religiös-ethnischen Gegensätze ausmachen, voraus.
Aber er vollzieht einen "Wahrnehmungsswitch", eine Umbewertung der Werte, und zwar in dreierlei Hinsicht:
# Er hebt die Antithese nicht auf, sondern bewertet sie positiv: Echte Vielfalt und Einheit, Integration, Homogenität bilden den kosmopolitischen Erwartungshorizont.
# Ziel ist nicht die Nivellierung von Unterschieden und Gegensätzen, vielmehr ihre Denaturalisierung, Denationalisierung und Depersonalisierung. Anders gesagt: An die Stelle des scheinbaren Realismus der Antithesen tritt der Realismus ihrer Vermischung.
# Diese Diagnose der Amalgamisierung und der dadurch entstehenden Individualisierung raubt den Antithesen ihre politikstiftende Funktion. Kosmopolitismus als Antithese der Antithesen deckt den verborgenen essentialistischen Hintergrund der Freund-Feind-Schematik des religiösen und nationalen Anderen auf, seine Bedeutung liegt gerade darin, die Gegensätze aus dem Wahnwitz der Freund-Feind-Schematik zu befreien.



S. 192) Von der Vererbung des Glaubens zum Religionskonsum

Die religious economics hat zur Voraussetzung, dass die konfessionelle Wahlfreiheit jedes Einzelnen sozial und politisch durchgesetzt ist. Entsprechend mussten die Kirche in den USA etwas lernen, das ihnen garnicht schmeckte. Insbesondere die katho.Ki. hatte große Schwierigkeiten damit, sich in eine Freiwilligenorganisation zu verwandeln, was den Umgang mit ihrer "Klientel" sowie das Verhältnis zu den großen Religionsgemeinschaften drastisch veränderte. Amerika ist in dieser Hinsicht eine Vorbildgesellschaft, in welcher das Urgrundrecht der freien Religionswahl zu einem Begründungsmythos des Staates wurde.
In Europa dagegen ist das Marktprinzip der individuellen Wahlfreiheit nur "halbiert" verwirklicht worden. Zum einen bilden die christlichen Kirchen und die europäischen Staaten immer noch eine Kooperationseinheit. Zum zweiten war zunächst die Konfessionswahl auf die christlichen Kirchen beschränkt, erst sehr spät konnten die Menschen sich auch für nichtchristliche Religionen entscheiden. Und in den letzten Jahrzehnten wurde das religiöse Wahlrecht zum ersten Mal als Recht verstanden, eine Religion anzubieten.
Neben die freie Religionswahl ist das freie, nicht an eine der etablierten Kirchen gebundene Angebot von Religionen getreten. Beides: das freie Angebot und die freie Wahlmöglichkeit zwischen diesen Angeboten, konstituieren den entfalteten Religionsmarkt.
In Europa vollzieht sich dadurch gegenwärtig der tiefgreifende Wandel von einer Kultur der religiösen "Vererbung" zu einer Kultur der freien Religionswahl und des Religionskonsums. So wird beispielsweise die "Konfirmation" von einem mehr oder weniger vorgegebenen Übergangsritus Jugendlicher in christlichen Familien zum Thema der persönlichen Wahl aller Altersgruppen. Die christlichen Kirchen passen sich in gewisser Weise auf diesem Weg ihren nichtetablierten Gegenspielern an. Freiwilligkeit (Markt) beginnt sich, unabhängig von den konstitutionellen Normen und Organisationsformen der Kirche, durchzusetzen.



S. 193 f.) Lebensgestaltung im Bewusstsein des religiös Anderen

Unter "Pluralisierung" verstehe ich die Koexistenz verschiedener, sich häufig widersprechender Weltperspektiven und Wertsysteme in einem Raum direkter Interaktion. "Kosmopolitisierung" ist ein Spezialfall von Pluralisierung, der dann vorliegt, wenn alte und neue globale Religionen und Religionsbewegungen sich grenzübergreifend auf ganz verschiedene Kontexte beziehen, in ihnen traditional oder neu lebendig sind, miteinander konkurrieren, interagieren, um Vorrechte streiten oder gegenseitig die Legalität oder Legitimität bestreiten.
Kosmopolitisierung meint also die Art, wie sich der Makrokosmos der Weltreligionen im Mikrokosmos des Nationalen und Kommunalen bricht, spiegelt. In diesem Sinne treibt Modernisierung zwar nicht Säkularisierung, wohl aber einen konfliktvollen Prozess der inneren Kosmopolitisierung von Religionsvielfalt in verschiedenen nationalstaatlichen Kontexten hervor (nicht zwangsläufig, jedoch angesichts der neuen, globalen Kommunikationsmedien mindestens in den deterritorialisierten Kommunikationsräumen des Internets selbst durch entschiedene religiöse und staatliche Abgrenzungsstrategien schwer aufhaltbar.) Der religiöse Andere ist gegenwärtig im Bewusstsein fast aller Menschen: nicht notwendig – das ist wichtig – als Feind, vielmehr als Alternative, eine Alternative nicht nur des Religiösen, sondern der Art und Weise, die Welt und das Leben aufzufassen und zu gestalten.


Christliche Atheisten


Die Marktlogik verflüssigt nicht nur die nationalen Grenzen und stellt damit – beispielsweise in Dtl. – die Konfessionsmonopole der evangelischen und katholischen Kirche in Frage. Die transkirchliche, transnationale Erweiterung der Glaubensangebotspalette löst Schockerfahrungen in der Gesellschaft (und damit Abwehrreaktionen) aus, weil selbst aus den christlichen Kirchen ausgetretene Atheisten immer noch christliche Atheisten sind. Zugleich bricht die Marktlogik mit der Konversionslogik. *)
Man muss nicht aus der eigenen Kirche oder Religionsgemeinschaft austreten, um religiöse Dienstleistungen für besondere Gelegenheiten, Lebenskrisen usw. zu konsumieren. Marktmodell heißt: An die Stelle des vom Kirchenmonopol vorgegebenen Entweder-Oder tritt das Sowohl-als-Auch. Die religiösen Angebote werden wie andere Angebote auf dem Markt ausgewählt, ausprobiert, gewechselt und gemischt. Womit Europa augenblicklich hadert, ist, markttheoretisch gesprochen, die Angebotsfreiheit des Islam – welche Wirkung diese Freiheit haben wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer prognostizierbar. Einiges spricht dafür, dass die europäischen Gesellschaften ihr Verständnis des Religion-Staat-Verhältnisses grundlegend überdenken, etwa durch eine "Entstaatlichung" der Religionsfreiheit. Nicht alle Muslime sind radikale Muslime, aber Muslime, die sich als europäische Muslime in den einzelnen Ländern verstehen und sich organisieren wollen, können nicht zu einer "organisatorischen Assimilation" nach dem Vorbild der europäischen Nationalkirchen gezwungen werden. Der Kampf um die Seele des europäischen Islam ist insofern ein Streit um die Durchsetzung des Marktfreiheitsprinzips für Religionen in Europa.

*) siehe Steve Bruce, Hartmut Zinser ("Der verkaufte Gott" 2006),
Robert Laurence Moore ("Selling God. American Religion in the Marketplace of Culture" 1994)



S. 194 f.) Das Feuer der Religion löschen

Wenn es richtig ist, dass die Weltgeschichte der Religionen die Geschichte von Irren ist, die sich aktuell oder potentiell wechselseitig an die Gurgel springen, dann wirkt die Marktlogik essentiell pazifierend. Der Markt ermöglicht und erneuert möglicherweise sogar den missionarischen Imperialismus, jedoch nicht in Form militärischer Eroberungen, sondern marktstrategisch. [...] Es entsteht eine Art "religiöser Imperialismus des Handelsgeistes", den diejenigen, die die religiösen Dienstleistungen und esoterischen oder New-Age-Angebote nachfragen, durch ihren Kauf- und Konsumakt bejahen. [...]
Was folgt daraus? Das Feuer der Religion könnte mit der Warenform Gottes gelöscht werden. Unverkennbar ist allerdings die Gefahr, dass mit dem Feuer die Religion selbst ausgelöscht wird. Möglicherweise haben diejenigen, die das Hohelied des Marktes in religiösen Dingen singen, recht, wenn sie der potentiell oder aktuell gewalttätigen religiösen Rechthaberei diese Rosskur verschreiben. Dieses Gegengift darf in der großen Hausapotheke der Menschheit nicht fehlen. Aber zwischen den Extremen – Religion tötet oder Markt tötet Religion – muss es (wieder einmal) einen dritten Weg geben, nach dem nun weiter gefahndet werden soll.



S. 196 f.) Habermas' Revitalisierung der Weltreligionen

"Wie gerade das Beispiel der USA zeigt, ist der moderne Verfassungsstaat auch erfunden worden, um einen friedlichen religiösen Pluralismus zu ermöglichen. Erst die weltanschaulich neutrale Ausübung einer rechtsstaatlich verfassten säkularen Herrschaftsgewalt kann das gleichberechtigte und tolerante Zusammenleben verschiedener, in der Substanz ihrer Weltanschauungen oder Doktrinen nach wie vor unversöhnter Glaubensgemeinschaften gewährleisten. Die Säkularisierung der Staatsgewalt und die positive wie negative Freiheit der Religionsausübung sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie haben die Religionsgemeinschaften nicht nur vor den destruktiven Folgen der blutigen Konflikte untereinander, sondern auch vor der religionsfeindlichen Gesinnung einer säkularistischen Gesellschaft geschützt. Der Verfassungsstaat kann freilich nur dann seine religiösen wie seine nichtreligiösen Bürger voreinander in Schutz nehmen, wenn diese im staatsbürgerlichen Umgang miteinander nicht nur einen modus vivendi finden, sondern aus Überzeugung in einer demokratischen Ordnung zusammenleben. Der demokratische Staat zehrt von einer rechtlich nicht erzwingbaren Solidarität von Staatsbürgern, die sich gegenseitig als freie und gleiche Mitglieder ihres politischen Gemeinwesens achten." (Jürgen Habermas 2005: "Zwischen Naturalismus und Religion", "Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion" 2005 mit Benedetto Ratzinger im Herder-Verlag SJ, 2007, unveröffentliches Manuskript: "Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne?"
Habermas fordert als konfliktregulierende Antwort auf die sich ausschließenden Absolutheitsansprüche religiöser Wahrheiten nicht weniger als die Zivilität des Verhaltens über religiöse Gräben hinweg. Alle haben den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus nicht nur als kleineres Übel hinzunehmen, sondern zu bejahen. Folglich darf man religiösen Stimmen in der Öffentlichkeit nicht von vornherein jeden "rationalen" Gehalt absprechen. Habermas verteidigt Hegel These, "dass die großen Religionen zur Geschichte der Vernunft selbst gehören."



S. 197 f.) Die säkulare Gesellschaft muss post-säkular werden

Für alle Konfliktpartner heißt das: Sie müssen einen tiefen historischen Lernprozess und Mentalitätswandel vollziehen. Die säkulare Gesellschaft muss post-säkular werden, d.h. skeptisch und offen für die Stimmen der Religionen. Die Zulassung der religiösen Sprache in der Öffentlichkeit sollte als Bereicherung, nicht als Verletzung gelten. Dieser Wandel ist nicht weniger anspruchsvoll als die allreligiöse Tolerierung des säkularen Nihilismus.


Dt. Dilemma unvollendete Säkularisierung


[...] Muslimische Religionsgemeinschaften nehmen das in der Verfassung festgeschriebene Recht der Religionsfreiheit ernst und fordern von den Katholiken und Protestanten, die sich das christliche Dtl. unbrüderlich teilen, auf die Unterstützung des "religiös-neutralen" Staates und seiner demokratischen Organe hoffend, den Islam rechtlich gleichzustellen. Damit gerät das System der semistaatlichen, dual-christlichen Religionsorganisation in Dtl. in ein Dilemma. Entweder wird die unvollendete Säkularisierung beibehalten oder die Säkularisierung vorangetrieben. Im letzteren Fall sind die nicht wenigen Privilegien der christlichen Kirchen abzuschaffen – vom Religionsunterricht an den Schulen über die Kirchensteuer bis hin zu den im Rundfunkrat für Kirchenvertreter reservierten Sitzen. Diese konsequente Trennung von Staat und Religion, wie sie in Frankreich üblich ist und von Habermas theoretisch modelliert wird, wäre sicherlich die sauberste Lösung. Schließlich sind auch Nicht-Christen Bürger, die ein Recht auf Freiheit von Religion haben.



S. 199 f.) Habermas' Neue Weltordnung, Habermas' Weltbürgerrecht

Nein, Habermas geht noch einen Schritt weiter. Auf der Suche nach einem globalisierten Verfassungspatriotismus entkoppelt er die universalistische Idee der Verfassung von ihrer nationalstaatlichen Konkretisierung. So betrachtet, findet er empirisch entstaatlichte Verfassungen in vielfältigen Formen, z.B. Wirtschaftsverfassungen, die Verfassung der EU, der UNO, der WTO, der Weltgesundheitsorganisation usw. Damit ist der Weg frei für die Idee einer politischen Verfassung für die multireligiöse Weltgesellschaft. D.h. für "eine Projektion jener 'bürgerlichen Verfassung', die zu Kants Zeit aus der amerikanischen und Französischen Revolution soeben entsprungen war, von der Ebene des Nationalstaates auf die globale Ebene. Damit ist der Begriff einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts geboren. Die großartige Innovation dieser den Verhältnissen weit vorauseilenden Begriffsbildung besteht in der Konsequenz der Umformung des internationalen Rechts, als eines Rechts der Staaten, in ein Weltbürgerrecht als ein Recht der Individuen. Diese genießen dann nicht mehr nur als Bürger eines Nationalstaates, sondern ebenso als Mitglieder einer politisch verfassten Weltgesellschaft den Status von Rechtssubjekten." (Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 326)
Diese programmatische Entkoppelung von Staat und Verfassung hat allerdings eine Konsequenz: Es handelt sich – so Habermas – um eine Verfassung der Weltgesellschaft ohne Weltrepublik, ohne Weltregierung und damit ohne weltstaatliche Erzwingungsmittel. Daraus geht für die religiös mobilisierte Weltgesellschaft das historisch Neue hervor: Da die Zivilisierung der Weltreligionskonflikte nicht mehr an die Erzwingungsmacht der Staaten (Erste Moderne) delegiert werden kann, muss diese Zivilisierung als Selbstzivilisierung den Weltreligionen zugemutet werden (Zweite Moderne). D.h. einerseits treffen in der kosmopolitischen Konstellation die wechselseitigen Dämonisierungen der Anders- und Nichtgläubigen direkt und ungebremst aufeinander, andererseits versagen die staatlichen Mittel der erzwungenen Toleranz, wie sie den Westfälischen Frieden überhaupt erst möglich gemacht haben. Denn zum Westfälischen Frieden kam es ja nicht, weil die Konfessionen aufgrund innerer Friedfertigkeit zur gegenseitigen Anerkennung bereit und entschlossen waren. Vielmehr waren es die politischen Mächte leid, sich mit einer der Konfessionen zu identifizieren und deren Konflikte mit Waffengewalt zu entscheiden. Sie waren es, die mit der Trennung von Religion und Staat einen Waffenstillstand der nicht friedensfähigen Konfessionen herbeiführten. Eben das entfällt in der Weltgesellschaft ohne Weltregierung.

0 comments: