January 17, 2011

Die Veränderung der Geschäftsgrundlage



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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S. 28) A Room of One's Own

Der eigene Gott könnte die religiöse Passform des eigenen Lebens, des eigenen Raums sein.
In ihrem Essay A Room of One's Own (London 1929) schreibt Virginia Woolf:

"Sie haben mich eingeladen, zu Ihnen über Frauen und Dichtung zu sprechen, und werden sich fragen, was hat das mit dem Thema zu tun, das ich behandeln werde – einen Raum für sich selbst?" Und sie antwortet: "Alles, was ich sagen kann, ist ein scheinbar vernachlässigenswerter Gesichtspunkt – eine Frau muss über eigenes Geld und einen Raum für sich selbst verfügen, um zur Dichterin zu werden. Wer hinter sich abschließen kann, besitzt die Möglichkeit, Konventionen zu brechen und abzustreifen.
Ein Schloss vor der Tür bedeutet demnach, eigene Gedanken zu entwickeln."


S. 32) Ein Grundthema dürfte sein, inwieweit die Auswanderung des "eigenen Gottes" aus den Kirchen in Europa und den USA, aber auch in vielen anderen im Umbruch befindlichen, weltreligiösen Landschaften anhält oder inwieweit eine "elastisch gemachte Kirche" (Ernst Troeltsch 1913: "Religiöser Individualismus und die Kirche") eine neue höhere Einheit von subjektiver Frömmigkeit und institutioneller Repräsentation hervorzubringen vermag, die diesen Trend wendet. Interessanterweise sieht Troeltsch Individualisierung als einen generellen Prozess, der "für die soziale Verfassung der Völker überhaupt", aber zugleich auch "für die Kirchen" die gesellschaftliche Geschäftsgrundlage verändert.



S. 37) Das Verdienst von Jürgen Habermas

Der Zusammenbruch der Säkularisierungstheorie ist daher weit bedeutsamer als beispielsweise der Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks. Trifft er doch nicht "nur" einzelne geopolitische Imperien, sondern gefährdet das Gefüge der Grundannahmen und Basisinstitutionen und damit letztlich die Zukunft der europäischen Moderne. Säkularisierung gilt (galt?) als konstitutive Voraussetzung für Demokratie und Modernität.
Es ist zweifellos das Verdienst von Jürgen Habermas ("Zwischen Naturalismus und Religion" 2005 und "Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne?" 2007) diese tabubeladene Frage aufgeworfen zu haben.



S. 38 ff.) Kreuzigungskult auf dem Vormarsch.
Weltreligionen nehmen Weltgesellschaft vorweg

Während sich also im westeuropäischen Raum (obwohl mit großen Unterschieden) die christlichen Kirchen gespenstisch leeren (was für die Säkularisierungstheorie spricht), zeigt sich in kosmopolitischer Perspektive das entgegengesetzte Bild, nämlich die Vitalität der Religionen, insbesondere des Christentums im außereuropäischen Raum. Hier sind wir gegenwärtig Augenzeugen einer der intensivsten Ausbreitungsphasen des Christentums in seiner Geschichte.

"Erstaunlicherweise wird von manchen (beispielsweise Samuel Huntington) der demographische Faktor praktisch nur auf den globalen Islam, aber nicht auf das globale Christentum bezogen. Dabei sind viele der am schnellsten wachsenden Nationen ganz oder stark christlich geprägt. Man denke nur an Brasilien, Uganda oder die Philippinen, deren Bevölkerung sich seit 1975 fast verdoppelt hat. Einige dieser Länder werden bis 2050 erneut eine Verdopplung oder mehr erfahren, was die Rangfolge der Staaten auf der Welt hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl völlig verändern wird.
Dabei ist die Demographie nicht die einzige Ursache für die rapide Ausbreitung des Christentums in der Welt. Entgegen den Erwartungen der Kritiker des Kolonialismus, die das Christentum als Implantat des Westens ohne Zukunft in fremder Umwelt betrachteten, begann eine rapide Ausbreitung des Christentums in Afrika auch durch massenhafte Konversionen erst recht nach Ende der Kolonialherrschaft.
Schätzungen besagen, dass gegenwärtig in Afrika pro Tag 23.000 Menschen zur Zahl der Christen hinzukommen – durch Geburt, aber auch zu mehr als einem Sechstel durch Konversion. Der christliche Anteil an der afrikanischen Bevölkerung ist von 1965 bis 2001 von 25 auf 46 Prozent gestiegen. Sicher sind Religionsstatistiken nicht extrem zuverlässig, aber zumindest die Trendaussagen scheinen unbestreitbar. Auch in Asien gibt es erstaunliche Erfolgsgeschichten des Christentums, am spektakulärsten wohl in Südkorea. [...]
In Lateinamerika ist der Siegeszug der Pfingstbewegung und protestantischer Sekten offensichtlich mehr als ein kurzlebiges Phänomen. Diese spielen vor allem auch für Frauen eine große Rolle, weil sie sich von ihnen eine 'Reformation des machismo' versprechen."
(Hans Joas 2007: "Säkularisierung und die Weltreligionen" S. 983)

[...] Enteuropäisierung des Christentums [...] "Weltreligionen sind ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Beitrag zur Ausdifferenzierung eines Religionssystems. Sie nehmen gleichsam die Weltgesellschaft vorweg."
(Niklas Luhmann 2000: "Die Religion der Gesellschaft" S. 157)
[...] "Die multikulturelle Weltkirche des römischen Katholizismus passt sich den Globalisierungstrends besser an als die nationalstaatlich verfassten protestantischen Kirchen, die die großen Verlierer sind. Am dynamischsten entfalten sich die dezentralisierten Netzwerke des Islam (v.a. in Afrika unterhalb der Sahara) und der Evangelikalen (v.a. in Lateinamerika). Sie zeichnen sich durch eine ekstatische, von einzelnen charismatischen Figuren entfachte Religiosität aus." (Habermas, Revitalisierung S. 2 f.)



S. 40 ff.) Das Paradox der Säkularisierung

In der einschlägigen Literatur wird Säkularisierung gleichgesetzt mit Entmachtung und Bedeutungsverlust der Religion und Religionsorganisationen. Ungestellt bleibt damit die Frage, inwieweit Säkularisierung nicht genau umgekehrt als großer Gewinn für die Religion angesehen werden kann und muss.
(Diesen Gedanken verdanke ich einem Gespräch mit Ulrich Wengenroth.) Um diesen Blickwechsel, diesen "Gestaltswitch" zu vollziehen, ist es nötig, das Paradox der Säkularisierung zu verstehen.
Greifen wir die europäische Debatte heraus. Im Anschluss an die Religionskriege wird in der frühen Neuzeit der Zerfall der weltlichen Macht der Kirche teils betrauert, teils gefeiert als Triumph der säkularen Rationalität der Wissenschaft und der irdischen Selbstbegründung politischer Herrschaft. Zwei Schlüsselakteure der Modernisierung, die sich aus dem Bann des Aberglaubens und der Machtanmaßung des Papsttums befreit haben. Aber gilt das nicht ebenso für die christliche Religion selbst? Ist nicht auch das Christentum vom Aberglauben und der schweren Bürde der Herrschaftslegitimation befreit worden?
Dient nicht gerade das, was vielen Kirchenvätern als Grund für die Entfremdung und den Niedergang der Religion erscheint – die Trennung von Religion und Wissenschaft sowie die Trennung von Religion und Staat – der Emanzipation der Religion, die sich, befreit vom Ballast unerfüllbarer Aufgaben, von nun an ihrem eigentlichen Geschäft – der Spiritualität – widmen kann? Ist also die aufgezwungene Säkularisierung, deren Klagelied den Sieg der Moderne bis heute begleitet, nicht geradezu ein Geschenk Gottes, das letztlich sogar dem Aufschwung der Religiosität im 21. Jh., der spirituellen Wiederverzauberung, die nun plötzlich überall mit großer Verwunderung, Bewunderung und Befremdung zur Kenntnis genommen wird, den Weg bereitet hat?

Säkularisierung entmachtet und ermächtigt Religion zugleich. Entthront und aus der gesellschaftlichen Mitte geworfen, ist der Religion zweierlei gelungen (wozu die Verkünder und Akteure des christlichen Heils freiwillig wohl niemals in der Lage gewesen wären). Erstens: den "Schwarzen Peter" ihrer Zuständigkeit für rationale Erkenntnis und Wissen an die Wissenschaft bzw. den Staat weiterzureichen. Nun muss die Wissenschaft ihre irdischen Entdeckungen als transzendente Wahrheit verkünden und inszenieren. Und die Politik muss in Gestalt von "Nation" und "Staat" die irdische Transzendenz der Souveränität des politischen Gemeinwesens heiligen.
Zweitens wird Religion auf diese Weise dazu gezwungen, nichts als Religion zu werden, also die unaufhebbare Spiritualität des Menschseins, das Transzendenzbedürfnis und -bewusstsein der menschlichen Existenz zu wecken, zu kultivieren, zu praktizieren, zu zelebrieren, zu reflektieren und auf diese Weise subjektiv und öffentlich zur Geltung zu bringen. Die Religion, die durch die Feuertaufe der Säkularisierung gegangen ist, weiß um die Grenzen der Religion, also um die Notwendigkeit der Selbstbegrenzung. [...]
Die Kirche ist nun nicht mehr für alles zuständig, nur noch für Spiritualität und Religiosität. In der Falle der Allzuständigkeit hingegen zappeln Wissenschaft und Staat.



S. 46 f.) Identitätsrahmen entrinnen

"Heutige Juden, wie ihre Altersgenossen in anderen religiösen Traditionen, haben bei der Suche nach Sinn eine Wende nach innen vollzogen. Sie haben sich von den Organisationen, Institutionen und Gründen gelöst, die Identität begründeten und das Verhalten prägten [...] Die grundlegende Autorität für heutige amerikanische Juden [...] bildet das souveräne Selbst. Jede Person muss nun ihr eigenes Selbst gestalten, indem sie die Elemente, die aus verschiedenen jüdischen und nicht-jüdischen Symbolrepertoires stammen, zusammenfügt, anstatt einfach den mit ihrer Geburt vorgegebenen, 'unentrinnbaren Rahmen' der Identität [...] zu übernehmen [...] Amerikanische Juden sprechen über ihr Leben und über ihren jüdischen Glauben und ihr Bekenntnis in Begriffen und Bildern des Unterwegsseins und des ständigen Fragens und der unablässigen Entwicklung. Sie vermeiden die Sprache des Angekommenseins. Es gibt keine letzten Antworten, keine unwiderruflichen Überzeugungen und Bekenntnisse."
(Steven M. Cohen, Arnold M. Eisen 2000: "The Jew within. Self, Familiy, and Community in America" S. 2, 7)



S. 49 f.) Hinkende Trennung

Was bedeutet z.B. die vielgepriesene und geforderte "Integration" der Muslime in Dtl. institutionell – also in einem Land, in dem es immer noch eine (wie es treffend heißt) "hinkende" Trennung von Kirche und Staat gibt? [...]
Aber historisch betrachtet ist Laizität das Resultat eines Kampfes zwischen atheistischen Staatsbeamten und der katho. Kirche. "Laicité" ist nicht nur anti-muslimisch, es ist anti-katholisch. Es ist in Vergessenheit geraten, dass im frühen 20. Jh. die Katholiken die öffentlichen Schulen verlassen haben. Als jetzt muslimische Einwanderer das Konzept als feindselig empfanden, tat der französische Staat so, als wäre Laizität ein fairer Handel. Es ist ein Handel, aber mit sehr hohen Kosten: Es gibt ein riesiges System katholischer Privatschulen.



S. 51 f.) Kulturtranszendierender Buchstabenfundamentalismus durch
"Reinstraum-Religionstechnik"

"Gegenwärtiger Fundamentalismus setzt insofern die Trennung von religiösen Symbolen und kulturellen Inhalten und Normen voraus. 'Hallal' beispielsweise meint gerade nicht mehr traditionale Speisen, sondern alle möglichen Speisen. Insofern erfreuen sich 'Hallal-Fastfood-Buden' gerade bei radikalen, wiedergeborenen Muslimen im Westen großer Beliebtheit und gerade nicht marokkanische oder türkische Traditionsrestaurants.
Diese Trennung bedeutet, dass es nicht etwa um einen clash of civilizations zwischen dem Westen und dem Osten geht, sondern um die Umformung des Glaubens in das, was als eine 'reine' Religion gesehen wird, die auf aus ihrem sozialen Kontext herausgelösten, religiösen Zeichen und Symbolen beruht."
(Oliver Roy 2006: "Islam in the West or Western Islam? The Disconnect of Religion and Culture" in
"The Hedgehog Review" no. 8, "After Secularization" p. 129) [...]
Ähnlich wie bei den amerikanischen Juden vollzieht sich auch bei den europäischen Muslimen eine Distanzierung von den heiligen Plätzen, Autoritäten und religiösen Organisationen und eine Hinwendung zu einer neuen, von Suchen, Auswählen und Kombinieren geprägten Spiritualität, die auch den Islam unter den Primat des individuellen Glaubens stellt. [...]
Bezeichnend für diese islamische Religiosität ist, dass sie "nicht auf die Sozialisation in einer aus der muslimischen Welt stammenden Familie zurückzuführen ist. Im Gegenteil, sie ist das Ergebnis der Emanzipation des Einzelnen von seiner Familie und deren ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen."
(Nikola Tietze 2002: "Individualisierung und Pluralisierung im Islam" in "Sozialer Sinn" 2, S. 230)



S. 53) Vertrautheit mit der Andersartigkeit

Das macht den großen Unterschied zwischen Europa und Amerika aus: In Europa, insbesondere in Dtl., müssen Muslime sich erst "integrieren", um selbst dann, wenn sie alle entsprechenden Kriterien erfüllen, kaum wirtschaftliche und politische Entfaltungs- und Partizipationschancen zu haben.
Die USA dagegen sind auf den Prinzipien des religiösen Pluralismus gegründet. Die Vielfalt der Konfessionen ist hier keine Schockerfahrung, sondern vertrauter Alltag, beispielweise dadurch, dass derselbe Arbeitsplatz von Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften wahrgenommen wird. Hier können die Menschen öffentlich fromm sein und ihre Unterschiede im Aussehen beibehalten und ihre Chancen in Wirtschaft und Gesellschaft nutzen, ohne sich zu assimilieren. [...]
Europa dagegen fremdelt im Umgang mit religiöser Andersheit, verlangt eine stärkere Assimilation und bietet eine weniger durchlässige Wirtschaft und Politik. Das bedeutet weniger Beteiligung und daher wiederum weniger Vertrautheit mit der Andersheit der Anderen seitens des Gastlandes.

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