January 19, 2011

Die Gesellschaft im Innersten der Identität



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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S. 102) Theoriediagnostisches Zauberwort
und Tiefenschärfe im Ansturm der Fremdheit

Die neuen Konturen der Gegenwartsgesellschaft, die sich als "Nebenfolge" globalisierter und radikalisierter Modernisierungen herauskristallisieren, können theoriediagnostisch als "Zweite Moderne" begriffen werden. Zu ihren neuen Grundzügen gehören: Verwobenheit von Menschen und Bevölkerungen über den Globus hinweg. Wachsende Ungleichheiten im globalen Raum. Die Herausbildung neuer supranationaler Organisationen in den Bereichen Wirtschaft (transnationale Unternehmen), Politik (nichtstaatliche Akteure wie IWF, Weltbank, WHO, Internationaler Gerichtshof), Zivilgesellschaft (advokatorische soziale Bewegungen wie Amnesty International, Greenpeace, feministische Netzwerke, Attac). Neue, normative Konzepte wie Menschenrechte. Neue Typen und Profile globaler Risiken (Klimawandel, globale Finanzkrisen, Aids). Neue Formen der Kriegführung, der global organisierten Kriminalität und des Terrorismus sowie neue Formen der Koexistenz, des Konflikts und der Kooperation der Weltreligionen.
Mit Grenzen, die durchlässig werden, also keine mehr sind, wird das Zauberwort einer kosmopolitischen Existenz ausgesprochen: die Bewährung des Ichs wie ganzer Gesellschaften im Ansturm der Fremdheit. Es findet derart eine "innere Globalisierung" in nationalen und lokalen Lebenswelten statt. Dies verändert die Bedingungen der sozialen Identitätskonstruktion, die nicht länger durch die negative, konfrontative Dichotomie von "wir" und "denen" konturiert werden muss. Gerade im Umgang mit dem religiösen Anderen wird deutlich, dass Kosmopolitisierung nicht irgendwo im Abstrakten oder Globalen operiert, in der externen Makrosphäre, irgendwo über den menschlichen Köpfen, sondern sich im Innersten der Menschen abspielt, im Verhältnis zu Gott, Welt und sich selbst. Das gibt den Konflikten der religiösen Kosmopolitisierung – dem Aufschwung der Fundamentalismen, aber auch dem Ringen um einen eigenen Gott – seine Tiefenschärfe.

Das Bewusstsein dieser Veränderung hinkt hinter der objektiven Realität hinterher, weil die Menschen immer noch den "nationalen Blick" haben, der suggeriert, die Nationalstaaten seien die wichtigsten "Container", innerhalb deren sich das menschliche Leben abspielt. Auch die dominante persönliche Identität wird durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Nationalstaat definiert, in Abgrenzung zu anderen Nationalstaaten. Das allerdings ist obsolet. Nationalstaaten existieren zwar nach wie vor, aber immer weniger als isolierbare Machtbehälter mit klaren Grenzen, wie dies für die Epoche der "Ersten Moderne" zutraf.
Ganz ähnlich wendet der größte Teil der Soziologie (aber auch andere Sozialwissenschaften) immer noch die Regeln des "methodologischen Nationalismus" an, indem Gesellschaften in den territorialen Grenzen des Nationalstaates als natürliche Einheiten der Datenproduktion und -analyse verstanden werden. Das sind Autobahnen der Konvention, die ins Nirgendwo führen. Ebenso wie die Begrifflichkeit der Nationalökonomie läuft die Begrifflichkeit der Nationalsoziologie leer, wird "empirisch blind". Daher wird die reale, objektive Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse am Beginn des 21. Jh.s völlig unangemessen reflektiert, sowohl auf der Ebene des sozialen Bewusstseins als auch der soziologischen Methodologie.



S. 103) Theologie in ihrer soziologischen Dimension

Religionen wohnt ein alternative Gesellschaftsverständnis inne, von dem die im methodologischen Nationalismus befangene Soziologie und Politikwissenschaft lernen kann. Kann eine Soziologie Gottes – der Gottesvorstellungen, der religiösen Rituale – exemplarisch klären, welche "Zutaten" Gesellschaft braucht, damit sie Gesellschaft wird, bleibt? Die Antwort der Soziologie der Modernisierung lautet: Gesellschaft wird zusammengehalten durch Zweckrationalität, Interessen, Klassen, Markt, Wissenschaft und entsprechende Organisationen einerseits und durch sozial konstruierte "Nationen", die sich gegeneinander abgrenzen und den demokratisch legitimierten National- und Wohlfahrtsstaat begründen, andererseits. Das gegenteilige Gesellschaftsbild der Religion definiert sich nicht nur durch Unterschiede beim Bezug auf die Transzendenz – entweder man glaubt an Gott oder man glaubt nicht an Gott – es lautet vielmehr: Die Gesellschaft der Religion liegt darin, dass sie wirkliche, emotionale, moralische Tiefenbindungen zwischen Individuen über die sozialen Grenzen von Klasse, Kaste, Geschlecht und Nation hinweg stiftet. (John Milbank wirft 2006 mit "Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason" die zentrale Frage nach einer Sozialtheorie jenseits der "säkularen Rationalität" auf.)
Man kann die Realität der Religion soziologisch beobachten, nämlich dass und wie Religionen die Individuen, Gruppen, Organisationen, Gesellschaften grenzenübergreifend zusammenfügen, zusammenhalten, zusammenschweißen, gegeneinander abgrenzen und aufeinander hetzen. Dieses "Dass" und "Wie" zeigt:
Die Weltreligionen gehen, was ihren Gesellschaftsbegriff betrifft, mit einem Startvorteil in die Zweite Moderne.



S. 105) Kultischer Kitt

Paradox formuliert ist es gerade das nicht-moderne Gesellschaftsverständnis, das die Weltreligionen für die Zweite Moderne qualifiziert. Katholiken, Muslime, Buddhisten usw. gehen hinter den Helden und Heiden der Moderne in die Drehtür hinein und kommen vor ihnen wieder heraus.
Schon Émile Durkheim argumentiert in seiner klassischen Studie "Die elementaren Formen des religiösen Lebens", dass der Gesellschaftsbegriff der Religion der Soziologie der Modernisierung eine zentrale Lehre erteilen kann, nämlich die: Auch moderne Gesellschaften produzieren und reproduzieren ihre Wirklichkeit und ihre Bindungen durch Rituale, die Emotionen stiften. Sie bilden den "Kitt", der die Mitglieder der Gruppe bzw. der Gesellschaft zusammenhält. Dies spiegelt sich darin, dass religiöse Rituale den normalen Alltag durchziehen und stabilisieren. Auch in Zeiten fundamentalen Wandels und politischer Krisen ermöglicht die Praxis der Rituale eine Art Transformation durch Integration.
In religiösen Symbolen, Liturgien, Zeremonien wird die Gruppensolidarität und -identität [...] gestärkt und verlebendigt. Religiöse Rituale befreien die Menschen von Sorgen des profanen Lebens und öffnen sie für Erfahrungen und Werte der Transzendenz. Diese praktizierte Vermischung von Diesseits und Jenseits stiftet eine Art von Gemeinsamkeit und Gesellschaft, die eine rationale Basis der Interessen nicht erzeugt, weil Religion moralische und emotionale Kollektiverfahrungen hervorbringt, die der zentrifugalen Dynamik der Individualisierung entgegengerichtet sind. Rituale "naturalisieren" Gesellschaft: Sie produzieren und reproduzieren Selbstverständlichkeiten, die so selbstverständlich werden, dass sie nicht mehr bewusst sind, aber gerade dadurch den höchsten Grad gesellschaftlicher Wirklichkeit erhalten (wie dies Garfinkel und andere im Rahmen der "Ethnomethodologie" durch sogenannte "Krisenexperimente", die diesen Grad der naturalisierten Selbstverständlichkeit gezielt außer Kraft setzen, bewusstmachen).



S. 106 f.) Cogito ergo sumus – ich denke, also sind wir

Ja, "Gesellschaft" ist eine Kraft, die größer ist als alle Individuen. Sie kann über Leben und Tod entscheiden.
Jeder hängt von Gesellschaft ab, hängt im Innersten seiner Identität mit ihr zusammen. Das Gesellschaftsbild der Religion sagt: Gott ist ein Symbol der Gesellschaft, Gesellschaft symbolisiert Gott.
Auch die Soziologen, die die "gesellschaftlichen Verhältnisse" jenseits des Alltagsbewusstseins ansiedeln, die zugleich dieses (für das Alltagsbewusstsein oft undurchschaubar) wesentlich bestimmen, gehen davon aus: Es ist keine Illusion, dass etwas außerhalb unseres Selbst da ist, mächtig und doch unsichtbar, wie "Gott", wie "Gesellschaft". Die Gesellschaftsanalogie Gottes und die Gottanalogie der Gesellschaft existieren sowohl im Inneren unseres Lebens als auch im Äußeren – für uns wie für andere.
Wir alle sind Teil der Gesellschaft. Die Gegenüberstellung von Ich und Gesellschaft ist falsch.
Man kann den Grundsatz Descartes' "cogito ergo sum" ersetzen durch den Grundsatz "cogito ergo sumus": Ich denke, also sind wir. [...]
Da soziale Kommunikation unsere Welt konstituiert, heißt das: Gesellschaft ist zugleich drinnen und draußen (wie immer dies definiert sein mag). Das macht Religion so fundamental: Religion drückt die essentiellen Fakten unserer menschlichen Existenz aus.
In Religion kommt eine Strukturähnlichkeit bzw. Wahlverwandtschaft zwischen religiöser Symbolik und gesellschaftlicher Existenz zur Sprache und gewinnt exemplarische Realität. Da Religion soziale Bindungen erzeugt, festlegt, was als "gut" und "böse" gilt, was dem Individuum auch um seiner selbst willen heilig zu sein hat, hat die Gesellschaft der Religion zwei fundamental entgegengesetzte Gesichter: Sie kann aus Egoisten Altruisten machen, aus toleranten Menschen Fanatiker, die Selbstmord als blinden Massenmord inszenieren und praktizieren.



S. 107 ff.) Religion – Quelle und Gully (Sickergrube) von Individualisierung

Auch die Individualisierung ist pränational, nationalstaatlich und postnational – pränational, weil sie (zumindest im Christentum) kirchlich geprägt und gehegt ist, und weil die christliche Kirchen (die protestantische mehr noch als die katholische) als historische Sozialisationsinstanz und Konservator eines provozierten wie dressierten Bekennerindividualismus aufgetreten sind.
Wer also als Gegengift gegen die "grassierende Krankheit des Individualismus" dreimal täglich die christliche Moral verschreibt, fördert den Individualismus, den er zu bekämpfen vorgibt.
Die Formel "Individualisierung der Religion" artikuliert einen realen Widerspruch.
Religion ist nämlich zum einen das Gegenteil von Individualisierung, sie ist Bindung, Gedächtnis, kollektive Identität und Ritual, aus denen, profanisiert und naturalisiert, die Gesellschaftlichkeit "gemacht" ist, hervorgeht. Religion ist zweitens die Quelle von Individualisierung. Gehe und bete zu dem Gott deiner Wahl! Religion beruht auf der Glaubensentscheidung des einzelnen und damit letztlich auch auf der Unterstellung der Freiheit des Individuums.
Religion ist demnach das Gegenteil und die Quelle von Individualisierung. Dieser Gegensatz zieht sich als Blutspur durch die Geschichte des Christentums. Die erste große Versicherungspolice gegen das Verlöschen des eigenen Lebens war das kirchliche Versprechen des ewigen Lebens, das Leben aller in und mit Gott. Der Tod als Bewährung vor Gott ist eine Erfindung, die durch die Jahrhunderte hindurch die Seelen beunruhigte – und vereinzelte. Tod bedeutete persönliche Rechenschaft ablegen vor Gott. So begann die Ursünde des Individualismus. Als Forderung der Kirche.


Institutionalisieren = fordern und fesseln


Um diese Paradoxie drehte sich durch die Jahrhunderte hindurch der Theologenstreit: Das Individuum gilt nun als wertvoll und wird im Prinzip als selbstbestimmt bedacht. Es ist fehlbar. Freiheit kommt im theologischen Gewande als die menschliche Möglichkeit der Sünde auf die Welt. In solchen Thesen ist bereits der Keim der Ketzerei, der Schismen, der Pluralisierung und Privatisierung der Religionen enthalten, der die innere Verwandtschaft von absoluter Wahrheit und Gewalt bis heute heraufbeschwört. Denn wo fände die Freiheit des Individuums ihren Grund, wenn nicht in der freien Glaubensentscheidung, die die Kirche institutionalisiert, d.h. zugleich fordert, verspricht und in Fesseln legt? Wo aber bleibt die Kirche, wenn der Mensch die Glaubensfreiheit wahr- und ernst nimmt? Dass das christliche Glaubensbekenntnis individuell und frei ist, also nicht durch Herkunft, Ethnizität, soziale Stellung, Geschlecht, Alter vorgegeben wird, ist der erste Schritt zur Säkularisierung und Individualisierung der Religion, der heute in der multiplen Religiosität des eigenen Gottes einen neuen Kristallisationspunkt findet.


Mythische Dialektik


Die kirchliche Dogmatik bleibt auch hier seltsam unentschieden: Einerseits sind die Welt und alles Treiben der Menschen nichtig. Sie ist Schall und Rauch vor Gott. Andererseits hängt vom Vollzug des eigenen Lebens nun alles ab: ewiges Leben oder ewige Verdammnis. Das entscheidet sich im Tod. Der Tod ist also eine Prüfung, die Prüfung auf der Karriereleiter ins ewige Leben (etwa dem zweiten Staatsexamen vergleichbar, das heutzutage die Tore in die staatsdienliche Unkündbarkeit öffnet. Mit der Größe der Strafandrohung – der Hölle und/oder dem Fegefeuer und/oder dem Erhängen oder Verbrennen im Diesseits – wird versucht, den theologischen Lapsus auszubügeln, die Individuen in die Freiheit der Glaubenswahl entlassen zu haben.
Das individualisierte Leben entsteht und steht unter der Drohung der ewigen Verdammnis. So wird die Freiheit, die Zügellosigkeit, die Anarchie der individualisierten Gesellschaft ermöglicht und zugleich aufgehoben.


Bewährung im Beruf wird zur Prüfung vor Gott


Im gleichen Maße aber wird das Leben auf sich selbst gestellt. Die Bewährung im Beruf wird zur Prüfung vor Gott. Wie Max Weber in seiner Protestantismus-Studie zeigt, bezieht die Rücksichtslosigkeit, mit der die Welt – auch die Überlieferung – von den modernen Menschen erobert, entzaubert wird, ihre Rechtfertigung aus dieser irdischen Bewährungsprobe des Menschen vor Gott. Ein auf sich selbst bezogenes, auf Gewinn ausgerichtetes, "rationales" Leben zu führen, wird zum Gottesgebot.
Diese Selbstentmachtung der Kirche, dieses Sich-selbst-das-eigene-Grab-Schaufeln der Theologie wird in allen Stadien der Säkularisierung und Resakralisierung Schritt für Schritt radikal zu Ende buchstabiert.
Entsprechend ist in historischer Langzeitperspektive zu unterscheiden zwischen Individualisierung Eins und Individualisierung Zwei: Individualisierung Eins meint Individualisierung in der Religion (z.B. Protestantismus), Individualisierung Zwei meint Individualisierung von der Religion ("eigener Gott").



S. 111 f.) Die "Neue-Welt"-Ordnung

Weltrisikogesellschaft ist ein anderes Wort für die Unausgrenzbarkeit der kulturell Anderen. Es kennzeichnet die Dichte der Welt, in der alle mit allen in der neuen Unmittelbarkeit einer zugewiesenen Nachbarschaft leben.

In der unausweichlichen Enge "steigt die autodidaktische Spannung. Man erlebt, wie uns die Nebenwirkungen des Handelns immer rascher einholen. Wo Fatum war, wird Feedback werden. Die Menschheit ist eine zum Erfolg verdammte Selbsterfahrungsgruppe, deren Teilnehmer sich gegenseitig so sehr unter Druck setzen, dass sie wohl noch im laufenden Jahrhundert einen halbwegs lebbaren Kodex erarbeiten könnten." (12/23'06 Sloterdijk "Ich bin nicht leicht zu provozieren.")

[...] Die zueinander an allen Orten der Welt in Konkurrenz tretenden Weltreligionen halten sich selbst nicht nur für die einzig wahre Religion, sondern auch für eine moralische Bewegung, die der Menschheit den Weg weist.
Kommt in solchen Thesen – so wäre zu fragen – nicht die weltverbesserliche Auffassung zum Ausdruck, wonach es kulturellen Selbstmord bedeutet, die zentrale Wahrheit der eigenen kulturellen Herkunft zu unterdrücken, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind und infolgedessen Demokratie die einzige Herrschaftsform ist, die die menschliche Würde garantiert? In der zugewiesenen Unmittelbarkeit der Nachbarschaft aller mit allen und der Fundamentalkonfliktquellen, die damit allgegenwärtig werden, ist diese Wahrheit meiner Überzeugung nach wichtiger denn je. Sie ist geradezu der Schlüssel zum Überleben.
Das ist ein Teil der Crux: Es gibt keine überparteilichen Beobachter, keine überparteilichen Lehrer und Lehren – es sei denn, sie bilden sich im Überlebenskampf der Weltreligionen heraus.

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