January 19, 2011

John Murray SJ: Intoleranz, wenn irgend möglich



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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S. 136) Das Undenkbare

Die "Erfindung" des eigenen Gottes bildet vielleicht das Herzstück der Revolution Luthers. Er ist es, dem das "Undenkbare", "Ungeheuerliche", die "Häresie" gelingt, durch die Konstruktion der Gottunmittelbarkeit des Individuums in der Verbindung von dem "einen" und dem "eigenen" Gott die subjektive Glaubensfreiheit gegen die kirchliche Orthodoxie zu begründen. Wenn am Beginn des 21. Jh.s der "eigene Gott" aus den Kirchen auswandert, ist diese zweite, globale Reformation der Neuen Religiösen Bewegungen ein spätes Echo auf Luthers widerspruchsvolle Figur des zugleich eigenen und einzigen Gottes.


S. 141) Im Grunde rational-systematisch

Luther variiert an entscheidender Stelle das traditionell-katholische Beichtmuster, das bereits eine für diese Änderung empfängliche Struktur enthält. Diese "Reformation der Beichte" liegt in der Konsequenz der Individualisierung Gottes. In der klassischen Beichte tritt die katholische Kirche, die sich selbst als "geheiligte Institution" und "Sakrament" versteht, dem einzelnen Glaubenden in der Figur des Priesters entgegen.
Genau dies verwirft Luther: Beten und beichten sind Formen der Gottunmittelbarkeit und damit Dialogformen mit dem "eigenen Gott":

"Er, der zeit seines Lebens die Beichte beibehält und verteidigt, radikalisiert sie zugleich und schafft sie in ihrer ritualisierten, distanz-schützenden Qualität für den späteren protestantischen Einflussbereich ganz ab. Auch die 'katholische' Beichte bleibt von dieser Veränderung nicht verschont." (Hans-Georg Soeffner 1992: "Luther" S. 42)

"Der 'Kirche' als sakraler Institution sind damit aus protestantischer Sicht nicht nur Legitimation und Macht entzogen, sondern auch – was entscheidender ist: ihr Einfluss auf die alltägliche Lebenspraxis, in die sie vorher seelsorgerisch schützend und beratend einbezogen war. Die protestantische Gemeinde, in der einerseits jeder einzelne sein einzigartiges Verhältnis zu Gott ausbildet und in der andererseits die Gemeinschaft als ganze die Tendenz zur wechselseitigen Kontrolle des einzelnen Gemeindemitglieds aufweist, ist etwas ganz anderes als der rituelle und ritualisierte, institutionell durchorganisierte, traditionale Gemeinschaftsverband der katholischen Kirche und ihrer im Grunde 'rational-systematischen Form' (Max Weber) der Seelsorge." (ebd. S. 45)


S. 143 ff.) "Abweichungen im christlichen Glauben, Verstöße gegen die kirchliche Dogmatik sind weit mehr als persönliche Sünde, sie sind eine Bedrohung der Gesellschaft insgesamt."

Martin Luther und John Calvin, die gegen den "institutionalisierten Irrglauben" der katho.Ki. rebellierten, waren, was die blutige Intoleranz betraf, mindestens so katholisch wie die Katholiken.
[...] "Toleranz" kommt vom lateinischen Verb "tolerare", was soviel wie "ertragen" meint.
Daraus geht zunächst hervor, dass das große Wort der Toleranz eher auf erzwungene Hinnahme als auf überzeugte Anerkennung der Freiheit und Andersheit der Anderen beruht. Auch setzt Toleranz die Möglichkeit voraus, diese zu entziehen, also einen Herrscher, der zugesteht, aber seine Großmut jederzeit widerrufen kann.
[...] Thomas Aquinas, ein Dominikaner und einer der führenden mittelalterlichen Philosophen und Theologen, rechtfertigte diese Praxis. Die Frage, ob Häretiker toleriert werden sollten, beantwortet er mit einem entschiedenen Nein. Denn "sie verdienen nicht nur durch Exkommunikation von der Kirche, sondern durch Tod von der Welt ausgeschlossen zu werden." Er begründet dies durch einen Vergleich. Ist es nicht, fragt er, ein sehr viel schwerwiegenderes Verbrechen, den Glauben zu korrumpieren, der die Seele verlebendigt, als beispielsweise Geld zu stehlen, wodurch doch nur sowieso endliches Leben verletzt wird.
Wenn also, folgert er, Diebe oder andere Verbrecher mit dem Tode bestraft und durch säkulare Herrscher hingerichtet werden, mit wie viel mehr Anspruch auf Gerechtigkeit können Häretiker nicht nur exkommuniziert, sondern vom Leben zum Tode gebracht werden? Abweichungen im christlichen Glauben, Verstöße gegen die kirchliche Dogmatik sind weit mehr als persönliche Sünde, sie sind eine Bedrohung der Gesellschaft insgesamt.
(vgl. Perez Zagorin 2004: "How the Idea of Religious Toleration Came to the West" S. 43)


In Komplizenschaft mit der päpstlichen Inquisition: Calvin


Einer der ersten Mutigen, der diese in der katho. Inquisition und der säkularen Exekution gründenden Basisinstitution der christlichen Intoleranz unter Berufung auf das Basisprinzip der christlichen Brüderlichkeit und Nächstenliebe grundsätzlich kritisierte, war Sebastian Castellio in seinem Buch "De haeretics" (1554), einem Leuchtturm im Kampf für religiöse Freiheit und Toleranz. Er kannte und kooperierte eine Zeitlang mit dem Reformer Calvin, bis er dessen entscheidende Rolle bei der ersten Exekution eines protestantischen Ketzers – Michael Servetus – in Lyon am 27. Oktober 1553 aufs Schärfste verurteilte. Für den Gipfel des Skandals hielt er die Tatsache, dass in Genf ein Protestant, nämlich Calvin, in Komplizenschaft mit der päpstlichen Inquisition einen Protestanten öffentlich verbrennen lässt, wodurch er die christliche Religion und die wahre Frömmigkeit und Liebe des Nächsten verrät. (siehe Zagorin ebd.)



S. 148) Paradoxe Kollektivität der Christus-Frömmigkeit

Der amerikanische Jesuit und Philosoph John C. Murray bringt die Haltung der katho.Ki. zur Religionsfreiheit auf die Formel:

"Intoleranz, wenn irgend möglich, Toleranz, wenn unbedingt nötig."

Dennoch gilt: Die christliche Moral hat die individualistische Moral zum Basisprinzip erhoben, und es ist unmöglich, dieses Prinzip aufzugeben, ohne dass das Christentum sich selbst aufgibt. Man prangere also nicht den Individualismus als Feind des Christentums an. Man bekämpft ihn nur, um ihn zu bestärken.
Geklärt werden muss, welches das richtige Maß und die richtige Art der paradoxen Kollektivität des christlich geprägten, kirchlich institutionalisierten Individualisierungsprozesses.



S. 152) Christentum gleichsam in den Grundrechten verschwunden

Institutionalisierte Individualisierung bezieht sich auf zwei Kontexte, die sich in ihrer Geltung historisch ablösen, möglicherweise auch überlagern, verstärken: die christliche und die wohlfahrtsstaatlich institutionalisierte Individualisierung. Es gibt also zwei historisch verschiedene, aber durchaus miteinander vergleichbare Formen verinnerlichter institutionalisierter Individualisierung: die christliche Beichte und die sozialen Rechte (die wie zivile und politische Grundrechte an das Individuum adressiert sind). Beide zwingen zur Selbstreflexion und üben individuelle Selbstzurechnung von Gesellschaftskrisen ein. Dabei zeigt sich, wie stark in Europa Institutionen und Mentalitäten von Religion geprägt worden sind, ohne dass sich dies im ausdrücklichen Bezug auf die zugrundelegenden religiösen Traditionen niederschlagen müsste. Das Christentum ist gleichsam in den sozialen Grundrechten verschwunden, und dieses Verschwinden kann als Zeichen des Erfolgs gesehen werden.


S. 160) Alles steht immer kurz vor dem Zusammenbruch

Die Vorstellung, wonach die sozialen Mega-Institutionen – Staat, Wissenschaft, Kapitalismus, Kulturindustrie – die "eigenen Leben" der vereinzelten Einzelnen durch und durch beherrschen, wird auch deshalb fragwürdig, weil diese Institutionen sich verflüssigen, andererseits die Individuen – oder "Dividuen" – keineswegs in den sozialen Netzwerken aufgehen bzw. perfekt in sie integriert sind. Die Individuen sind dazu verdammt, sich in erfindungsreiche "Bastler" und "Heimwerker" ihrer im Individualisierungs- und Globalisierungsprozess enttraditionalisierten und unlebbar werdenden Identitäten zu verwandeln. Das eigene Leben wird zu einer "Welt der Welten", in der nichts mehr ausgeschlossen und alles dauernd schnell entschieden werden muss. Den Individuen der Weltrisikogesellschaft ist die Möglichkeit hinreichender reflexiver Distanz zu sich selbst abhanden gekommen. Sie sind schlicht nicht mehr in der Lage, lineare, narrative Biographien zu konstruieren. Sie balancieren auf einem Hochseil in der Zirkuskuppel zwischen Scheidung, Jobverlust, permanenter Selbstanpreisung und flexiblem Selbstunternehmertum. Sie sind nicht Künstler, sondern Flickschuster ihrer selbst. Sie improvisieren, kombinieren, konstruieren Ad-hoc-Allianzen, um das Nötigste zu bewältigen, beispielsweise das Kind in den Kindergarten zu bringen oder aber dem "Gift der Woche" mit dem eigenen Speiseplan einen Haken zu schlagen. Alles steht immer kurz vor dem Zusammenbruch. Ob dies die Zutaten zum Abendessen, die Flugsicherheit, die Krankenversorgung, die Alterssicherung, die Europäische Union, die Universität, der Frieden, das Klima [...]


S. 163 f.) In konfessionellem Gehorsam

Die Kirchen in Dtl. und die großen Religionsgemeinschaften in anderen Ländern haben die Neuen Religiösen Bewegungen lange Jahre als "Sekten" für tendenziell unmoralisch, asozial und unvernünftig gehalten und sie entsprechend behandelt. Indem Theologie und Soziologie diesen Exklusionsbegriff wissenschaftlich sanktionierten, ergreifen sie nicht nur in konfessionellem Gehorsam Partei für die religiösen Monopole.
Vielmehr entlasten sie die Kirchen, wie sich selbst, davon, die Existenz der Neuen Religiösen Bewegungen ernst zu nehmen und im Zusammenhang von Macht- und Bedeutungsverschiebungen des kosmopolitischen religiösen Feldes zu analysieren. Der von Troeltsch – ergänzend – eingeführte Drittbegriff der frei fluktuierenden Mystik nimmt dagegen die Individualisierung der Religion vorweg. Er eröffnet den Blick für die Fließwirklichkeit der entgrenzten Religiosität und Spiritualität, für die Gleichzeitigkeit von Verschmelzung und Abgrenzung, von expliziter und impliziter Religiosität, von tradierten Religionsgemeinschaften und Neuen Religiösen Bewegungen.


Feindliebe als Horizonterweiterung


[...] Kirchen und Sekten mögen Differenzierungen wie Klasse und Nation überwinden, sie spalten die Welt in Gläubige und Ungläubige, denen sie, da sie sich dem "wahren Gott" verweigern, am Ende die menschliche Würde absprechen. Der eigene Gott der individualisierten Religiosität kennt dagegen keine Ungläubigen, denn er kennt keine absoluten Wahrheiten, keine Hierarchie, keine Ketzer, keine Heiden, keine Atheisten. Im subjektiven Polytheismus des "eigenen Gottes" haben viele Götter Platz.
Was Religionen und Kirchen, befangen in ihrem religiösen Wahrheitsanspruch, nicht nur für moralisch verwerflich, sondern für logisch ausgeschlossen halten, wird hier praktiziert: In der nomadischen Suche nach religiöser Transzendenz sind die Individuen beides zugleich: Gläubige und Ungläubige. Ja, der Sinn des eigenen Gottes liegt gerade in dieser "Feindliebe" als religiöser Horizonterweiterung. Die gewaltträchtige Spaltung zwischen Gläubigen und Ungläubigen wird unterlaufen, die "Ungläubigen" werden zum integralen Bestandteil der eigenen Glaubenserfahrungen.



S. 165) Zum Gottvater seines eigenen Gottes geworden

Erst so wird erkennbar, was sich im Zusammenspiel von alten und neuen Religionen und Bewegungen ereignet, nämlich nicht weniger als "eine religiöse Reformation im Weltmaßstab". (Was wohl Luther dazu sagen würde? Erfüllt sie seine Hoffnungen oder seine schlimmsten Befürchtungen? Oder beides zugleich?) Als globale Reformation kann sie nur "im Blick auf die sich herausbildende globale Gesellschaft" (Peter Clarke 2006: "New Religions in Global Perspektive. A Study of Religious Change in Modern World") wirklich verstanden werden. Auch wenn es keine klaren Zahlen gibt – nicht zuletzt weil die Grundbegriffe "Mitgliedschaft" und "Zugehörigkeit" verschwimmen – kann man davon ausgehen, dass die Neuen Religiösen Bewegungen "globale Religionen in ihrem eigenen Recht" sind. (ebd.)
Sie repräsentieren die Pluralität der Moderne.
Dieses Melangeregime des Religiösen ruft neue Widersprüche hervor. Ist die Suche nach Spiritualität nicht ein paradoxer Versuch, der bodenlosen Individualisierung Grenzen zu setzen?
Die Luthersche Konstruktion, durch die Gleichsetzung von "Textunmittelbarkeit" und "Gottunmittelbarkeit" die freigesetzte Individualisierung Gottes universalistisch einzudämmen, bricht nun in sich zusammen. Es stellt sich die Frage, ob das gottebenbildliche Individuum, zum Gottvater seines eigenen Gottes geworden, die Koordinaten der spirituellen Erhellung endgültig ins Absurde, Esoterische verschoben hat.



S. 166 f.) Katholischer Schamanismus und: "von den Eltern hineinsozialisiert"

Es geht also weniger darum, wie die alten Religionen predigen, Gottes Aufmerksamkeit und Unterstützung zu erringen, es geht darum, an der Schöpferkraft des inneren Gottes teilzuhaben.
Erst dem kosmopolitischen Blick zeigen sich auch die im konfessionellen Blick oft belächelten oder als blasphemisch abgetanen neuen Zwitterformen und (latenten) Polygamien des Religiösen, die längst trotz der monogamen Religionszugehörigkeit entstanden sind (Friedrich Wilhelm Graf 2004: "Die Wiederkehr der Götter"):
Schweizer Katholiken, die keine Schwierigkeit haben, an die Auferstehung Christi und die buddhistische Reinkarnation zu glauben, ein katholischer Schamanismus, der den Lebenden einen bemerkenswert freundschaftlichen Umgang mit den Toten ermöglicht, arabische Mullahs, chinesische Gelehrte, japanische Bonzen, tibetanische Lamas, hinduistische Panti, die Fatalismus wie Prädestination, Ahnenkult wie Anbetung des vergötterten Herrschers, Frohsinn des Pessimismus wie Erlösung durch Selbstverwirklichung predigen. Damit wird deutlich: Die Neuen Religiösen Bewegungen ersetzen nicht die alten, sie gestalten sich vielmehr wechselseitig um in ihrem Verständnis von Begriffen wie Transzendenz und Glauben, Gut und Böse usw.
Es kommt auf diese Weise – zunächst bei den Gläubigen – zu einer "subjektiven Kosmopolitisierung" der Religionen. Prägnante Formulierungen für die zombieartigen Sowohl-als-Auch-Formen entkernter Kirchenfassaden, hinter denen die Säkularisierung in Europa fortschreitet, hat Grace Davie gefunden. Sie spricht von believing without belonging (Mitgliedschaft ohne Glauben) gegenüberstellen, aber auch eine dritte Zwitterform des Sowohl-als-Auch, nämlich multiple believing with belonging: multiple Glaubensbindungen trotz konventioneller Kirchenmitgliedschaft.
Nach wie vor wird man (wie die Statistik zeigt) in Dtl. und in anderen europäischen Ländern in die religiöse Gemeinschaft hineingeboren und von den Eltern hineinsozialisiert, und man verbleibt in der Glaubensgemeinschaft, wenn man nicht wechselt oder austritt. Was das heißt, ist jedoch vollständig offen.
Viele bedienen sich aus dem reichhaltigen weltreligiösen Angebot je nach Bedarf, ohne Austritt aus der alten Kirche und auch ohne Eintritt in eine andere.

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