February 2, 2011

Symbolsysteme der Religionen zutiefst janusköpfig



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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S. 219) Wie ein wiedergeborener Marx

Die katholische Kirche ist weder ein Staat noch eine Nichtregierungsorganisation – sie ist eine Kreuzung aus beidem – eine quasi-staatliche Nichtregierungsorganisation mit globaler Reichweite und Stimme, die sie ihrem Selbstverständnis als Friedensmission zufolge für das Wohl und Wehe aller Menschen und für die Verteidigung der Humanität erhebt. Tatsächlich hat Papst Johannes Paul II. sich wie ein wiedergeborener Marx für die Armen der Welt und gegen die Ausbeutung durch den Kapitalismus ausgesprochen, nachdem der Kommunismus zusammengebrochen war. Er hat den Irakkrieg in der persönlichen Anwesenheit des Kriegsherrn, des US-Präsidenten Bush, gegeißelt.
Und in der allgemeinen Konfusion des clashs of universalisms ist es ausgerechnet Papst Benedikt XVI., der die Maxime weltöffentlich vertritt: "Leitwert der Gläubigen sei außer Glaube Vernunft statt Gewalt."


S. 220) Manche sagen: Ein Christentum, das tolerant wird, gibt sich selbst auf. "Denn was für Nationen gilt, trifft analog auch für Religionen und Konfessionen zu: Keine starke Identität ohne klares Feindbild." (Graf S. 35) Das mag für die Verschmelzung von Nation und Religion im 19. und im weltkriegerischen 20. Jh. gegolten haben, wird aber am Beginn des 21. Jh.s falsch. Hier gilt: Keine starke Identität ohne die Anerkennung der religiösen Andersheit der Anderen. Denn in der unwiderruflichen transreligiösen Verflochtenheit und angesichts der Antizipation von Selbstzerstörungspotentialen der Zivilisation gewinnt die kosmopolitische Alternative Konturen, öffentliche Stimmen und Zustimmung.



S. 221) Christliche Sünder-Mensch-Dialektik

"Liebe den Sünder, aber nicht insofern er Sünder, sondern Mensch ist," formulierte Augustinus.
Das bedeutete: Die Anerkennung der Person muss von dem abgekoppelt werden, was sie tut, glaubt und welche gesellschaftliche Position sie einnimmt. "Thomas von Aquin wiederholte:

'Wir müssen nämlich in den Sündern das hassen, was sie zu Sündern macht,
und das lieben, was sie zu Menschen macht.'

Hiermit ist für jeden Menschen ein bleibendes Existenzrecht formuliert, das auf von Gott begründetem Respekt beruht: Jeder ist, unabhängig von Stand, Bildung, Rasse, Nationalität und sogar Sündigkeit zu akzeptieren, letztlich zu lieben. Jede Person behält ihr bleibende Würde, auch wenn sie ob ihrer Untaten vor Gericht gezogen wird: Liebe selbst auch den Feind, aber verabscheue, was jeweils seine Bosheit ausmacht. [...]
Im Christentum sei, so der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich, eine menschheitsumfassende Brüderlichkeitsethik konstitutiv geworden, und die bedeute 'eine gewaltige Leistung der prophetischen Erlösungsreligion und einen ungeheuerlichen Affront gegen alle bekannte Moral,' die immer 'der eigenen Sippe den Vorrang gebe'." (Angenendt S. 583 f.)



S. 224) Die Strömung einer kosmopolitischen Theologie entfalten

Die Anerkennung der Andersheit der Anderen setzt die Intoleranz gegenüber denen voraus, die die Andersheit der Anderen nicht anerkennen. Die Abschaffung der Sklaverei verlangt die Intoleranz gegenüber Sklavenhaltern und -händlern sowie gegenüber denjenigen, die diese tolerieren. [...] Die Symbolsysteme der Religionen sind zutiefst janusköpfig – sie können der Legitimation des Kosmopolitismus wie der Legitimation des Anti-Kosmopolitismus dienen. Aber es existiert eine uralte Tradition und Erfahrung mit einer globalen, multiethnischen Weltgesellschaft und einer darauf bezogenen, grenzenübergreifenden, staatentranszendierenden Organisation, die über die Jahrhunderte gewachsen ist und für bedeutungslos hält, was die nationalstaatliche Epoche zu ihrem Nonplusultra gemacht hat: Grenzen, nationale Zugehörigkeit, Ausschluss von Fremden anderer Nationen, anderer Hautfarben, anderer politischer Überzeugungen. Die religiösen Glaubensgemeinschaften haben in ihrem Gedächtnis aufbewahrt, dass die Menschlichkeit nicht durch diese Gegensätze gekennzeichnet ist, sondern durch die Überwindung dieser Gegensätze. Die Weltreligionen könnten – paradoxerweise unter Bezugnahme auf ihre eigene Tradition – Antworten auf die kosmopolitische Konstellation der Zweiten Moderne hervorbringen. Sie könnten – ähnlich wie zuvor bereits die feministische Theologie oder die Befreiungstheologie – die Strömung einer kosmopolitischen Theologie entfalten, die, anknüpfend an kosmopolitische Visionen des mittelalterlichen Katholizismus (die Schritt für Schritt vom 16. bis zum 19. Jh. zurückgedrängt oder schlicht entsorgt wurden), einen weltbürgerlich geläuterten Umgang mit Ungläubigen und Andersgläubigen zum Kern ihres Glaubens und ihrer Glaubensorganisationen macht. Religion – oder genauer: bestimmte religiöse (hier: kosmopolitische) Traditionen – ist nicht nur Teil des Problems, sondern möglicherweise auch Teil der Lösung.


S. 226 ff.) Perspektivwechsel: Frieden statt Wahrheit

Religion ist Schiebung, ganz klar! Dieses Urteil liegt in mehr oder weniger abgemilderter Form dem stiefmütterlichen Umgang der Soziologie und Politikwissenschaft mit der Religion in der modernen Welt zugrunde. Max Weber, der wie kein anderer die Pluralität der Religionen anerkannt hat, hat dann mit seiner Entzauberungsformel – mehr Moderne gleich weniger Religion – die Religion der Moderne in die Ecke zunehmender Irrelevanz abgeschoben. Marx' berühmtes Diktum "Religion ist Opium des Volkes" war ja nichts anderes als eine Kriegserklärung der marxistischen Moderne an einen herrschaftslegitimierenden Aberglauben. Selbst Émile Durkheim, der Religion so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, untersucht nicht die Rolle der Religion als Akteur und Konstrukteur der Moderne, sondern deren Nebenfolge: Religion bildet den "Kitt", der die Mitglieder der Gruppe bzw. der Gesellschaft zusammenhält.
Diese durchgängige Abstraktion von Religion als Akteur und Konstrukteur der modernen Welt findet sich bereits bei den Philosophen der Aufklärung. Von Immanuel Kant bis Jean-Jaques Rousseau sowie Politiktheoretikern von John Stuart Mill bis Ernest Gellner stimmen sie darin überein, weltreligiöse Allianzen können nur zu Absolutismus und Intoleranz führen. Und in der Tat war die Kirche lange Zeit in fast jedem Land der Welt auf Engste mit den antidemokratischen Eliten verbunden. Sie bekämpfte Kapitalismus, Liberalismus, den modernen säkularen Staat, die demokratischen Revolutionen, den Sozialismus, die Menschenrechte, die Revolution der Frauen und die sexuelle Revolution – und war dabei nie siegreich. Es ist daher nicht überraschend, wenn die katholische Kirche im Laufe der Jahrhunderte eine Geschichtsphilosophie des Verlustes entwickelte.
Und doch haben historische Forschungen zu den Religionen verschiedener europäischer Gesellschaften im langen 19. Jh. gezeigt,

"dass manche Kirchen auf die Traumata krisenhaft erlittener Modernisierung bemerkenswert intelligent reagierten. Sie revitalisierten lange vergessene kultische Praktiken und Riten, um gerade den vielen Modernisierungsverlierern in bedrohlicher Unübersichtlichkeit zu neuer, starker Identität zu verhelfen. Sie nahmen die dramatischen sozialen Krisenphänomene ernst, indem sie mit Diakonie, Caritas und klug organisierter Nächstenliebe Netzwerke kommunitärer Solidarität knüpften und Menschen am Rande der Gesellschaft neue Lebenschancen eröffneten.
In anderen Kirchen waren relevante Teilgruppen der Pfarrerschaft, der in allen religiösen Großorganisationen wichtigsten Funktionselite, bereit, die überkommenen symbolischen Bestände und theologischen Lehren um der Kommunikationsfähigkeit mit den neuen bürgerlichen Sozialgruppen willen tiefgreifend zu reformieren und mit den alten religiösen Zeichen den Bürgern ihren eigenen Wertehimmel zu bauen.
Klassische Beispiele dafür sind der dt. Kulturprotestantismus und das v.a. in Dtl. entworfene, später in andere europäische Gesellschaften und v.a. die USA exportierte Reformjudentum.
Einige Kirchen reagierten auf die höchst widersprüchlichen, geschichtlichen Entwicklungen eher verunsichert und defensiv, andere entschieden offensiv. Vergleichende Untersuchungen des britischen Sozial- und Religionshistorikers Hugh McLeod haben die große Vielfalt der Krisenwahrnehmungen und Reaktionsmuster in den kirchlichen Funktionseliten verschiedener europäischer Länder gezeigt." (Graf S. 27 f.)

Der Perspektivwechsel, der Religion als Mitkonstrukteur der Moderne ernst nimmt, soll nun in zwei Schritten ausgelotet werden: Modernisierung der Religion hieß zum einen im 19. Jh. im mitteleuropäischen Kontext Nationalisierung der Religion, die in offenem Widerspruch zum christlichen Universalismus steht (Nationalisierung der Religion). Zum anderen: Inwieweit ist es möglich, Wahrheit durch Frieden zu ersetzen? (Frieden statt Wahrheit? Religion als Modernisierungsakteur in der Weltrisikogesellschaft.)



S. 230) Heiland Hitler und Carl Christian Bry

Die Medizin gegen die Verteufelung der nationalen Anderen und nationale Intoleranz ist die Idee Jesus Christus, die gleichbedeutend ist mit dem Niederreißen der ethnisch-nationalen Mauern.

"'Im Nationalsozialismus,' schrieb 1931 der evangelische Theologe Richard Karwehl [...] 'haben wir eine säkularisierte Eschatologie vor uns' In dieser werde der 'jüdische Messianismus' ersetzt und überboten durch den 'germanischen Messianismus'. Die nationalsozialistische Bewegung habe 'der Kirche ihre entscheidenden Begriffe entlehnt und sie unter der Hand verwandelt. Die Erbsünde ist die Sünde wider das Blut. Die Gottesebenbildlichkeit ist das Urbild des Ariers.
Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Senkung des rassistischen Niveaus durch "Blutschande".
Das Parteiprogramm ist unveränderlich und unfehlbar wie das Dogma der Kirche. Das Reich Gottes wird durch das Dritte Reich ersetzt.
'" Schreiner 2003: S. 32 f., zit. nach Angenendt 2007)

Nach außen ersetzt die Nationalisierung der Religion das Freundbild des Mitchristen durch das Feindbild des nationalen Anderen, dessen Mitchristentum bedeutungslos wird. Nach innen wird die nationale Indienstnahme Gottes in Form der Ausgrenzung, ja, Extinktion der religiösen Anderen betrieben.
So gewann der evangelische Pastoren-Nationalismus seine Anhängerschaft aus der Illusion, es handele sich bei den Nationalsozialisten um eine anti-katholische, anti-ultramontane evangelische Partei, mit deren Hilfe man das Glaubensmonopol erlangen könne. Die Pointe dieser protestantischen Verheiligung der Nation besteht darin, dass diese die "Natürlichkeit" der nationalen Entgegensetzung auf die "Natürlichkeit" der Intoleranz gegenüber den nationalen und religiösen Anderen überträgt.

*) "Wer den Nationalsozialismus begreifen will, kann ihn nur als Religion begreifen. ("Die größten Massenmörder waren Atheisten.") Bereits 1924 zählte Carl Christian Bry den Nationalsozialismus in seinem Buch 'Verkappte Religionen' (Neudruck München 1979, hrsg. von Martin Gregor-Dellin, Ehrenwirth Verlag) zu den religiösen Utopien, die den 'kollektiven Wahn' auslösen können. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuß führte den Begriff der 'verkappten Religion' 1925 im Reichstag ein. Der evangelische Pfarrer Richard Karwehl hielt 1931 eine Predigt 'Politisches Messiastum', in der er nachwies, dass der Nationalsozialismus jeder grundlegenden Wahrheit des Christentums eine antichristliche Alternative gegenüberstellt. Der jüdische Philosoph Hans-Joachim Schoeps veröffentlichte 1939 anonym seinen Beitrag 'der Nationalsozialismus als verkappte Religion'. So gab es schon vor und während der Zeit des Nationalsozialismus Stimmen, die Hitlers Programm nicht nur als Ideologie oder als politischen Totalitarismus verstanden, sondern in ihm eine Religion mit umfassendem Anspruch sahen. Doch erst in neuerer Zeit mehren sich wieder die Stimmen, die den Nationalsozialismus als Religion verstanden wissen wollen: z.B. Gary Lease, 'Hitler's National Socialism as a Religious Movement' oder Claus-E. Bärsch, 'Antijudaismus, Apokalyptik und Satanologie: Die religiösen Elemente des nationalsozialistischen Antisemitismus'.
Gerade die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Nationalsozialismus macht deutlich, wie verhängnisvoll es war, dass die meisten Christen im Nationalsozialismus keine konkurrierende Religion, sondern lediglich ein politisches System sahen. Dabei hätte der verpflichtende Gruß 'Heil Hitler' alleine schon jeden nachdenklich machen müssen. Doch trotz der klaren auf Jesus Christus bezogenen biblischen Aussage: 'Es ist in keinem anderen Heil,' sprachen ungezählte Christen diesen Gruß gedankenlos nach."



S. 231) Die theologischen Gutachter Elert und Althaus

In ihrem "Theologischen Gutachten über die Zulassung von Christen jüdischer Herkunft zu den Ämtern der Dt. Evangelischen Kirche" stellen die Erlanger Theologen Paul Althaus ("1933 begrüßte er die 'Machtergreifung' der Nationalsozialisten als ein 'Geschenk und Wunder Gottes'.") und Werner Elert 1933 fest, dass die "äußere Ordnung der christlichen Kirche [...] nach reformatorischer Lehre [...] nicht nur der Universalität des Evangeliums, sondern auch der historisch-völkischen Gliederung der christlichen Menschen zu entsprechen" habe. Christen hätten die schicksalhafte "biologische Bindung an ein bestimmtes Volk [...] mit Gesinnung und Tat anzuerkennen." (zit. nach Axel Töllner 2007: "Eine Frage der Rasse? Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, der Arierparagraph und die bayrischen Pfarrerfamilien mit jüdischen Vorfahren im 'Dritten Reich'" S. 57)
Für Elert war es überdies selbstverständlich,

"dass sich ein Christ 'mit entschlossenem Ernst auch für die biologische Reinerhaltung des dt. Blutes einzusetzen hat, die heute durch unsere Gesetzgebung gefordert und gefördert wird.'" (ebd. S. 58)

So wird die Judenverfolgung bis hin zur Deportation sogar für die "Bekennende Kirche" zu einer "neuen Bestätigung eines bereits biblisch fixierten jüdischen Schicksals." Der aggressive Antisemitismus protestantischer Gemeinden gehorchte dem staatlich verordneten Antisemitismus. Und es kam sogar "in etlichen Gemeinden seit 1941 zu einem Verbot für 'christliche Judensternträger zu Gottesdiensten'.
Die kleine Zahl 'nicht-arischer' Pfarrer sah sich 'innerkirchlich besonders stigmatisiert' und auch von seiten der Bekennenden Kirche oft ohne die notwendige Hilfe." (Angenendt S. 557)