January 21, 2011

Auch Wissenschaft entpuppt sich als Interpretation



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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01/17'11 evangelisch.de) Trend zur Patchwork-Religion wächst

S. 168) Internetseiten

In veränderter subjektiver Form kehrt die Gründerzeit der großen Weltreligionen zurück, in denen die "Großen Religionserzählungen" der Menschheit sich miteinander verflochten und missionarisch ausbuchstabiert wurden – im Mittleren Osten, in Indien, in China und in Europa. Insofern kann man sagen: Der religiöse, kosmopolitische Geist der Weltgesellschaft ist – anders als der Geist des Kapitalismus – von Anfang an Teil der Religionen. "Globalisierung" der Religionen stellt historisch nichts Neues dar, es bildet vielmehr ein Definitionsmerkmal von Religion. (Graf, Wiederkehr der Götter, S. 71 ff.) Ein Beispiel für die neuen Formen von Religionen bieten die religiösen Internetseiten. Hier findet sich ein kaum übersehbarer Bazar der Sinnangebote, den die Individuen durchstreifen und von denen sie sich nehmen, was ihnen gefällt.


S. 172) Gleicher Relativismus stellt Gleichberechtigung von Wissens her

Die postmoderne Religiosität stellt die Moderne in Frage, ohne zu den Ursprüngen fundamentalistischer Religiosität zurückkehren zu wollen. Die religiöse Postmoderne bricht mit mindestens einem Grundprinzip der säkularen, ersten Moderne: mit der hierarchischen Ordnung von wissenschaftlichem Wissen und religiösem Glauben, also damit, dass die moderne Wissenschaft die einzige Form des objektiven Wissens über die Welt ist.
Die postmoderne Welt beginnt dort, wo das religiöse Wissen wie das wissenschaftliche Wissen ihre Unschuld verloren haben und diese Gleichheit des Relativismus eine neue Gleichberechtigung des religiösen mit dem wissenschaftlichen Wissen (bzw. Glauben) herstellt. Auch wissenschaftliches Wissen entpuppt sich aufgrund seiner fortschreitenden Selbstentzauberung als eine imaginäre Interpretation der Welt, die auf Glauben (Glauben in die Entzifferbarkeit der Welt) beruht und keine finale Wahrheit über die Realität an sich zu liefern imstande ist.
Darüber wird zwar zwischen verschiedenen Wissenschaften und Wissenschaftsphilosophien gestritten, aber allein die Umstrittenheit beweist oder erweist die postmoderne Koexistenz relativen (wissenschaftlichen) Wissens und (religiösen) Glaubens.

Diese neue Gleichheit des Wissens- und Glaubensrelativismus erzwingt, so scheint es auf den ersten Blick, einen radikalen kulturellen und ethischen Relativismus. Die Postmodernisten feiern diesen absoluten Relativismus, weil sie in ihm das Ende der Totalitarismen sehen, die mehr oder weniger zwangsläufig zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige führen und diese rechtfertigen.
Selbst wenn keine Gewalt droht, tötet der Anspruch auf absolute Wahrheit das Gespräch mit Anderen. Wahrheit, die ein für allemal gilt – sei sie wissenschaftlichen, sei sie religiösen Ursprungs und Anspruchs – begünstigt die Unmenschlichkeit in allen zwischenmenschlichen Bezügen.
Auf der anderen Seite scheint genau diese "Diktatur des Relativismus" den Weg in die menschheitliche Katastrophe schlechthin zu weisen. Denn sie zwingt dazu, die klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Wir und die Anderen aufzulösen und die Menschheit angesichts zivilisatorisch erzeugter Gefahren orientierungslos sich selbst zu überlassen.



S. 179 ff.) Hinter den Fassaden der religiösen Großetikette

Diese subjektiven Suchbewegungen und Kompositionen individualreligiöser Erzählungen brechen selbstbewusst (und zwar aufgrund religiöser Überzeugungen und Erfahrungen) mit dem Reinheitsideal der klerikalen Hüter institutionalisierter "Volkskirchen-Wahrheiten". Verblüffend ist, dass diejenigen, die so frei sind, sich auch diese Freiheit der Religion zu nehmen, sich weiterhin als "Christen" bezeichnen.
Welches sind die Nebenfolgen dieser Deregulierung der organisierten Systeme religiösen Glaubens?
Ist die Individualisierung Gottes ein Gegengift gegen jenen vielbeschworenen Zusammenprall der Religionen und Zivilisationen, allein schon deshalb, weil Religionen dann in der bekannten Form nicht mehr existieren?
Mit der Macht, die die Individualisierung des Glaubens im religiösen Leben und Erleben der Welt gewinnt, wird das für das weltgesellschaftliche Zusammenleben äußerst folgen-, ja gefahrenreiche Ideal der Reinheit der religiösen Identitäten relativiert oder sogar ersetzt durch das Ideal von Unreinheit.
Die selbstbewusste Anarchie der religiösen Zugehörigkeiten, die sich teilweise hinter den Fassaden der religiösen Großetikette (Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten etc.) vollzieht, entschärft strukturell (also nicht intentional, sondern als Nebenfolge) das Gewaltpotential religiöser Wahrheitswidersprüche und ist damit ein wichtiger Schritt in Richtung auf ein kosmopolitisches Miteinander der alten und neuen globalen Religionen.
Denn die "Unreinheit" des Glaubens schließt die Religiosität der Anderen ein und wird zur Quelle individualisierter Gotterfahrung.


"Ketzerei" des religiösen "Mischmaschs" könnte zur "Pflicht" werden

"Die meisten Menschen sind andere Menschen," sagt Oscar Wilde.
"Ihre Gedanken, ihr eigenes Leben eine einzige Nachahmung, ihre Leidenschaften ein Zitat."

Wenn Religionsfreiheit so radikalisiert und praktiziert wird, dass die Individuen tatsächlich ohne Zwang kommunizieren können, persönliche "Glaubenslösungen" und so (zu Ende gedacht) eine innere weltreligiöse Multireligiosität im eigenen Leben und Glauben entsteht, dann relativieren sich die weltreligiösen Konfliktfronten in dem Maße, in dem die Individualisierung des Glaubens sich über alle Grenzen hinweg ausbreitet und an Macht gewinnt. Es ist die "Ketzerei" eines religiösen "Mischmaschs", die – als ungesehene Nebenfolge – das Prinzip der Gewaltfreiheit im Umgang der Religionen miteinander verbürgen könnte.
Auf der individualisierten Pluralität religiöser und anderer Identitäten und Bindungen beruht die Utopie des Gewaltverzichts in den weltgesellschaftlichen Beziehungen. Im Gefolge der erfahrenen und reflektierten weltreligiösen Verflechtung, die den Erzählungen vom Glauben an den "eigenen Gott" eingewoben sind, wird die Religion der Anderen nicht mehr nur "toleriert" (also als indifferent oder als zwar unerfreulich, aber unvermeidlich angesehen), sie gilt vielmehr als Bereicherung des eigenen religiösen Erlebens. Daraus könnte sich eine paradoxe, auf Eigennutz gründende "Pflicht" entwickeln, gemäß der Devise: Die Freiheit der Religion ist die Freiheit der Andersgläubigen. Das Ausruhen auf dem Wahrheitsmonopol der institutionalisierten Religionen, die Ausgrenzung der Andersgläubigen würde dann ethisch geächtet.
Das reduktionistische Reinheitsdiktat geht in der Regel mit vernebelnden Sichtweisen der Weltgeschichte einher. Übersehen wird die transreligiöse Verflechtungsgeschichte.
Eine solche Geschichte kennt keine harmonistischen Dialogkonzepte. [...]
Vielleicht muss man, wie Gottfried Herder schon im 19. Jh. vorschlug, den Einfluss des Islam auf Europa infolge der Eroberung Spaniens tatsächlich als die "erste Aufklärung" bezeichnen.
Von einer "ursprünglichen Reinheit" der Weltreligionen kann überhaupt keine Rede sein, weil "der" Islam an vielen Orten mit "dem" christlichen Westen und "der" jüdischen Welt aufs Engste verflochten war.



S. 184 f.) Politische Nächstenliebe

Die Individualisierung des Glaubens bricht schließlich mit der selten angezweifelten Gleichsetzung von Religiosität und Moralität. Nahezu alle politischen Positionen gehen davon aus, die Motivations- und Legitimationsressourcen der institutionalisierten Religionen böten den Bezugspunkt des moralischen Verhaltens.
Nicht selten trifft man selbst im säkularen Europa neuerdings auf die Vorstellung, ohne den institutionalisierten Glauben an Gott könnte niemand garantieren, dass die Menschen sich moralisch verhielten. Die politische Rhetorik verkündet dann, dass es die "jüdisch-christlichen Werte" [...] sind, die "Europa" oder den "Westen" kennzeichnen, womit oft die Haltung einhergeht, ohne diese Wertprinzipien gebe es keinen Grund, gerechte Gesetze zu erlassen, die eine humane und gerechte Ordnung stiften.
[...] Die Verfechter der religiösen Definitionen neigen dazu, Moralität den Dogmen der Religion unterzuordnen und sie dadurch von der Lebensrealität leidender Menschen abzuschneiden.
Einen solchen Gegensatz von Religion und Moral kann man beispielsweise im Überfluss und zum Überdruss in Afrika beobachten. Allein in den Ländern südlich der Sahara rafft die Aids-Epidemie jedes Jahr mehrere Millionen Menschen dahin. Dennoch erfüllen die dort agierenden kirchlichen Amtsträger ihre "Pflicht" und predigen selbst in Gemeinden, in denen die Aids-Flut steigt, dass der Gebrauch von Kondomen eine schwere Sünde sei. Und dies geschieht aus "christlicher Nächstenliebe", und obwohl sie wissen, welche entsetzlichen Leiden daraus folgen. Und: Sie sind die einzigen, die die Bedeutung von Kondomen den Menschen erläutern könnten.
[...] Er oder sie setzt Glauben mit Religion gleich und exekutiert als religiöser Konformist ohne individuelle Verantwortung die moralischen Dogmen der Kirche. Diese ohne individuellen Gott stattfindende Aktion kann im Grenzfall Urteil und Empfinden eines Menschen abtöten. Und umgekehrt gilt: Ein guter Mensch tut weniger gute Taten, als er dies täte, wenn er seinem Gewissen und nicht der verinnerlichten Kontrolle des kirchlichen Gottes gehorchte.
[...] Dann jedoch stößt man auf in religiösen Überlieferungen kodifizierte Forderungen Gottes, die einen schaudern machen: "Wenn ein Mann entdeckt, dass seine Braut keine Jungfrau mehr ist, dann muss er sie zu Tode steinigen." Mit Entsetzen liest dies derjenige in der "Heiligen Schrift", dessen religiöse Erfahrung und moralisches Urteil in der subjektiven Erzählung vom eigenen Gott wurzelt.
Auf der anderen Seite gilt: Der islamische Terrorismus ignoriert alle Gewaltverbote des Koran.



S. 186 f.) In der postsäkularen Welt

Die Trennung von Staat und Kirche ist schon lange vollzogen, in Frankreich seit mehr als 200 Jahren. Die Frage, wie in der postsäkularen Welt die individualisierte Religiosität ihre rebellische, öffentliche Stimme gewinnen kann, verweist auf die radikale Ambivalenz des religiösen Moralabsolutismus, wie er auf der einen Seite von Civil Disobedience – so lautet der Titel des weltberühmten Essays von Henry D. Thoreau – weltpolitisch wirkungsvoll wurde, auf der anderen Seite sich jedoch in der weltmachtstrategischen Terrordrohung des Islamismus artikulierte.
Thoreau gehört zum engen Kreis der uramerikanischen Amerika-Kritiker. Ein bemerkenswertes Faktum ist, dass der heute grassierende Antiamerikanismus in seinen radikalsten Ausdrucksformen Teil des "amerikanischen Traums" ist. Thoreau war dem (mit dem dt. philosophischen Idealismus eines Kant und Fichte verwandten) Neuengland-Transzendentalismus des amerikanischen Sokrates, Emerson, gefolgt.
Da Politik und Gesellschaft in seinen Augen versagten, boten Selbstsuche und Selbstreform den einzigen Ausweg. Die Welt der Politik war für ihn fast nicht mehr existent. Sie erschien als unwirklich, unglaubwürdig und bedeutungslos.
Doch dem Rückzug auf die "Selbstreform" war der Weg abgeschnitten, weil sich in der Selbstsuche die moralischen Maßstäbe schärfen, und der Staat selbst den Bürger, der sich in die Festung seines Selbst zurückzog, zum Komplizen des "zum Himmel schreienden Unrechts der Sklaverei" machte. In dieser Situation, davon wollte Thoreau die Amerikaner überzeugen, hatte ein Staatsbürger nicht nur das Recht, sondern sogar die moralische Pflicht, dem Staat den Gehorsam zu verweigern:

"Wie soll sich ein Mensch heutzutage gegenüber dieser amerikanischen Regierung verhalten?
Ich antworte darauf, dass er sich nicht ohne Schande mit ihr einlassen kann.
Nicht für einen Augenblick kann ich die politische Organisation als meine Regierung anerkennen, die zugleich auch die Regierung der Sklaven ist."

(Auch der Diskurs der Islamisten ist sozialrevolutionär, auf "Gerechtigkeit", ausgerichtet.)
Die Sklaverei war damals legal und entsprach dem Willen der Mehrheit der Amerikaner.
Die "Resistence to Civil Government" musste also die Legitimität in Zweifel ziehen. Thoreau konnte sich dabei weder auf die Zustimmung der Bürger noch auf eine einflussreiche politische Partei, noch auf die Autorität der Kirchenführer berufen, hatten diese doch die Sklaverei gutgeheißen oder stillschweigend geduldet.
Die Legitimität, auf der seine öffentliche Anklage beruht, war die Religion: die Rechtfertigung der amerikanischen Regierung vor Gott. Weil die Sklaverei nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden konnte, musste Thoreau sie in einen Widerspruch zu einem Gesetz stellen, das über dem "höchsten Gesetz des Landes" stand, nämlich dem göttlichen Gebot. Wer der inneren Stimme dieses absoluten "höheren Gesetzes" folgte, für den galt:

"Derjenige, welcher nach dem höchsten Gesetz lebt, steht in gewissem Sinne über dem Gesetz."

(Das predigt auch der Islamismus.) ["Die Gemeinschaft steht über allem. Das feindlich gesinnte Element ist ausfindig zu machen und zu bekämpfen. Mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. So steht es in den Statuten."]
Für Thoreau selbst war die Sachlage sonnenklar: Wer nicht zum moralischen Mittäter des Sklavenstaates werden wollte, musste öffentlich handeln, ohne in den Kreislauf von Gewalt und (öffentlicher) Gegengewalt zu geraten.
Er musste den Weg der friedlichen Revolte wählen, die den Nerv des staatlichen Machtanspruchs trifft, er musste zivilen Ungehorsam leisten, das heißt: die Steuern verweigern.
Thoreau sah sich mit allen Vorwürfen konfrontiert, die auch heute gegen die "Selbstherrlichkeit" eines zivilen Widerstandsaktes vorgebracht werden:
In einer Demokratie sei solcher Widerstand überflüssig, ja, er verachte den demokratischen Mehrheitswillen und übe eine Diktatur der abweichenden Meinung aus.



S. 188) Der rechte Platz

Entscheidend ist, die Macht der religiös begründeten absoluten Moral im öffentlichen Raum zur Geltung zu bringen. Die Stärke des Staates beruht nämlich letztlich nicht auf seinem Gewaltmonopol, sondern auf der "freiwilligen Knechtschaft" der Bürger. Es ist das Selbst-Gefängnis des vorwegeilenden Einverständnisses mit der staatlichen Machtordnung, die den Staat ermächtigt. [...]

"Der rechte Platz, ja, der einzige Platz, den Massachusetts heutzutage für seine freieren und weniger verzagten Geister vorgesehen hat, sind seine Gefängnisse, wo sie vom Staate selbst ausgeschlossen und ausgesetzt werden, da sie sich schon selbst durch ihre Grundsätze ausgeschlossen haben."

Civil Disobedience wurde zum Vorbild für die Rückkehr der durch die Individualisierung des Glaubens moralisch gestärkten religiösen Stimme und Tat in den öffentlichen Raum. Die Wirkungsgeschichte ist überwältigend.



S. 189) Besonders Fromme sind bereit zur Gewalt

Wie die Religionen selbst hat auch die Individualisierung ihr Doppelgesicht: Man kann mit ihr Gewaltfreiheit und Gewaltaktionen begründen. Wenn man die Mittelwahl, also die Entscheidung für gewaltfreien Widerstand, ausklammert, sticht die Strukturanalogie der Position von Thoreau und bin Laden ins Auge.
Die Unterscheidung zwischen "nur" demokratisch legitimierten Gesetzen und einer in der Gottunmittelbarkeit begründet liegenden Hypermoral, die den einzelnen zum Widerstand ermächtigt, stärkt bei Akteuren einmal die Bereitschaft zum zivilen Widerstand, führt ein anderes Mal dazu, das eigene Leben zu opfern und wahllos Mitmenschen "auf Befehl Gottes" mit in den Tod zu reißen.
Das Fazit lautet: Auch die Individualisierung des Glaubens kann nicht durch die Macht der ungesehenen und ungewollten Nebenfolge die Zivilisierung der Weltreligionskonflikte einleiten, schon garnicht garantieren.

"Wenn auf vielen Religionsfeldern eine zunehmend größere Zahl von Akteuren rhetorischen Eskalationsstrategien folgt, ist die Radikalisierung symbolischer Konflikte unausweichlich. Im Pantheon des frühen 21. Jh.s sind liberale Konsensgötter in die Minderheit geraten. Viele ekstatisch wilde, machtbesessene Götter werden in den pluralen Religionsfeldern der Zukunft neue dramatische Kämpfe inszenieren, und die religiöse Gewaltbereitschaft wird besonders Frommen als wahrer Gottesdienst erscheinen." (Graf, Wiederkehr der Götter, S. 66)

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