August 6, 2010

Chaos, Christianity and Complexity Theory



A Perfect Mess ... Eric Abrahamson, David Freedman: Das perfekte Chaos
Warum unordentliche Menschen glücklicher und effizienter sind


S. 67)
"Ordnung ist das erste Gesetz des Himmels." Alexander Pope

S. 71)

Die Reputation der Unordnung wurde
durch die Verbreitung des Christentums arg in Mitleidenschaft gezogen.

Beispielsweise waren schon die frühen Kirchenführer nicht besonders scharf drauf, abweichende Meinungen in ihrer Herde aufkommen zu lassen. Um 100 n. Chr. warnte Bischof Ignatius seine Gemeinde:

Deshalb ist es recht und würdig, dass Ihr Jesus Christus auf jegliche Art preiset, da der Euch gepriesen hat, dass Ihr in einmütigem Gehorsam seid, vollkommen einig, mit gleichem Sinn und gleichem Urteil und dass Ihr alle das Gleiche sagt über die gleichen Dinge. [...] Nach Korinther: So [...] werdet Ihr, Mann für Mann, zu einem einzigen Chor.


S. 16)
Order itself became Business
Es ist eine regelrechte Industrie entstanden, die uns suggeriert, wir könnten zufriedener und erfolgreicher sein, unsere Unternehmen und Institutionen wären effizienter, wenn wir nur unseren Besitz, unsere Zeit und unsere Mittel besser organisieren würden. Führen Sie sich nur einmal die Flut von Buchtiteln, die riesige Auswahl von Organisationshilfen für Heim und Büro, die Kurse und Seminare, die Computerprogramme, die Fernsehshows, die Zeitschriften und die Organisationsberater vor Augen, die alle eine Variation des gleichen Themas liefern: Mit ihrer Hilfe sollen wir unser Leben in Ordnung bringen, uns effizientere Gewohnheiten zulegen, unseren Tag, unsere Woche, unser Leben planen, unsere Firmen umstrukturieren und alle Prozesse streng standardisieren. Es wird uns schnell klar: Ordnung und Organisation sind zu einem Milliardengeschäft geworden.

S. 30)
Rieselfelder und Moderatoren
Bei all dem Geld und der Energie, die wir zur Bekämpfung von Chaos und Unordnung aufwenden, wäre eigentlich anzunehmen, wir seien uns über den Nutzen von Ordnung weitgehend einig. Ganz sicher gibt es irgendwo den Beweis dafür, dass feste Zeitpläne, ordentliche Wohnungen, strengere Routine und bessere Ablagesysteme uns ein schöneres Leben und mehr Erfolg im Beruf verschaffen und dass Unternehmen und Gesellschaften ihre Situation verbessern, indem sie Chaos und Unordnung bekämpfen, wo und wann immer sie auftauchen. Diese Vorstellung ist so tief in unserem Denken verwurzelt, es scheint beinahe absurd sie zu hinterfragen. Nicht nur die uns täglich berieselnden Medien und ganze Industrien warten darauf, unsere Schlampigkeit und Unordnung zu kurieren. Wir hören es seit unserer Kindheit von Eltern, Lehrern, Vorgesetzten, Ehepartnern und anderen Mitmenschen – alle schlagen in die gleiche Kerbe. Wenn wir den Eindruck haben, wir schaffen irgendetwas nicht, dann sind wir schnell dabei, die Schuld dafür in unserer schlechten Organisation zu suchen. Unser Glaube an den Nutzen der Ordnung ist so tief verwurzelt, wie es der Glaube an die Segnungen einer kohlehydratreichen Ernährung einst war. Die folgenden Aussagen würden bei den wenigsten Menschen auf Widerspruch stoßen:
# Ordnung und Organisation erlauben uns, effizienter und im Großen und Ganzen effektiver zu funktionieren.
# Ordnung und Organisation lassen uns seltener Fehler machen oder Dinge übersehen und verringern das Auftreten von zufälligen Störungen in unserem Umfeld.
# Ordnung und Organisation sind ästhetisch wohltuend und erholsam.
Es ist nicht schwer sich Situationen vorzustellen, in denen diese Aussagen zutreffen. Aber was ist mit Szenarien, bei denen das eindeutig nicht der Fall ist? Lässt sich beweisen, dass es in vielen Situationen völlig sinnlos ist, eine bessere Ordnung und Organisation anzustreben?

S. 42)
Chaos, Complexity und der I-Quotient (not "iQuotient")
Vielleicht erklärt das, warum nach einer Umfrage der Personalvermittlungsagentur Ajilon Office die Tendenz zu Unordentlichkeit im Büro mit steigendem Bildungsgrad, steigendem Einkommen und höherer Erfahrung zunimmt.

S. 43) Ich begriff, dass es hier nicht um Disziplin ging, sagte sie. Es ging um Neugier.

S. 54)
Alles eine Frage der Wahrnehmung ...
Das Ergebnis ist erstaunlich – oder auch nicht: Unternehmen, die viel Planungsarbeit leisteten, hatten im Durchschnitt keine besseren Resultate als Unternehmen, die nur wenig planten.
Starbuck findet dieses Ergebnis wenig überraschend. Er behauptet sogar, es wäre ein Wunder gewesen, hätte er etwas anderes herausgefunden. Der Hauptgrund hierfür sei kurz zusammengefasst:
Das Topmanagement beziehe nur einen Haufen wackliger Annahmen in den Planungsprozess mit ein. Es beginne schon damit, dass Manager dazu neigten, ihre Märkte, ihre Branchen und sogar ihre eigenen Unternehmen ausgesprochen falsch einzuschätzen. Untersuchungen bestätigen dies. Selbst bei den einfachsten Fragen über ihren Verantwortungsbereich tappten Topmanager peinlicherweise im Dunkeln. "Die Wahrnehmung von Managern liegt normalerweise schrecklich weit daneben," sagt Starbuck. "Manchmal ist es wirklich zum Lachen."

S. 85) Denn chaotische Systeme sind meistens starrer und langsamer, wenn es darum geht, auf neue Anforderungen, unerwartete Ereignisse und neue Informationen zu reagieren.

S. 101) Gail Leftin, Gründerin und Leiterin der Schule, ist es gewohnt, sich mit solchen Befürchtungen auseinander zu setzen. Das Leitprinzip des Little Red Wagon ist dagegen, den Kindern so wenig vorgekauten Lernstoff wie möglich vorzusetzen. Es gibt kein festes Curriculum. Es gibt keine durchgeplanten Projekte. Es gibt kein festgelegtes Theaterstück, das für die Eltern aufgeführt wird. Die Kinder entwickeln das alles selbst in einer Art Festival des kreativen Chaos.

S. 162)
Komplexitätstheoretiker
Nach wissenschaftlichen Belegen ist ein chaotisches Umfeld gut dazu geeignet, einen stetigen Strom nützlicher Hinweise zu produzieren. Mit der deskriptiven Komplexitätstheorie, einem kleinen Zweig der Informationswissenschaft, wird untersucht, welche Ressourcen benötigt werden, um bestimmte Probleme zu lösen. Nach dieser Theorie nimmt die Menge an Information, die in einem System repräsentiert sein kann, mit der Zufälligkeit des Systems zu.

S. 168)
Scientific Generics
Diese Firma mit Sitz in Waltham, Massachusetts und in Cambridge hat 300 Angestellte, aber kein wirkliches Hauptgeschäftsfeld. Das Unternehmen bietet ein paar Beratungsdienstleistungen an, doch in erster Linie sucht es nach interessanten ungenutzten Nischen jeder Art. Für diese unentdeckten Geschäftsfelder schafft es Abteilungen und Technologien, oder es kauft sie auf und macht anschließend mit ihnen, was am profitabelsten ist.
Hinter dieser lockeren Struktur verbirgt sich der Grundgedanke, sogenannte "Spin-up"-Unternehmen zu entwickeln. Das sind Geschäftsbereiche, die innerhalb einer Firma entstehen, wenn sich irgendwo eine Gelegenheit dazu bietet und die dann untereinander um Ressourcen wetteifern.


S. 172)
Bausatz-Business
Ein weiteres Beispiel ist Van's Aircraft ein in Oregon ansässiger Hersteller kleiner Privatflugzeuge, die als Bausätze geliefert und in der Garage der neuen Besitzer montiert werden. Die lebendige Gemeinde von Van's-Enthusiasten, die sich im Internet und bei "Fly-in"-Versammlungen trifft, arbeitet zusammen und tauscht Designs für Änderungen und neue Accessoires aus, die von Austauschmotoren bis zu Sonnenblenden für das Cockpit reichen. Laut Geschäftsführer Scott Risen verbringen die fünf Topmanager von Van's insgesamt 25 Stunden pro Woche im Internet und schauen nach, was ihre Kunden so treiben. Daneben sind sie noch unzählige Stunden bei Fly-ins, um einen direkten Blick auf einige der Innovationen werfen zu können. Die besten Ideen werden in neue Modelltypen der Flugzeuge eingebaut oder im Zubehörkatalog der Firma angeboten. "Wir bieten alle möglichen Dinge an, die unsere Kunden entworfen haben," sagt Risen. "Wenn wir etwas sehen, das uns gefällt, dann finden wir heraus, wer es gemacht hat, und fragen ihn oder sie, ob wir es vermarkten dürfen."

S. 174)
Basis von Leidenschaft
Aber das ist die große Überraschung der Open-Source-Programme: sie werden viel stärker durch die im Internet aktiven Communities vorangetrieben als durch irgendwelche Herstellerfirmen. Was für einen Angestellten vielleicht langweilige Arbeit wäre, ist für irgendeinen Enthusiasten da draußen eine spannende Herausforderung.
"In den neunziger Jahren suchten die Unternehmen wie besessen nach Talenten, bezahlten was immer nötig war, um die besten Leute zu halten, aber sie bekamen am Ende nie die ganze Leidenschaft der Leute," sagt Steven Weber, ein Professor an der University of California in Berkeley. Er untersucht, wie die Open-Source-Prinzipien sich auf Wirtschaft und Politik anwenden lassen. "In Open-Source-Projekte fließt doppelt so viel Energie durch die Leute, die mitmachen."

S. 174 f.)
Eric Raymund und die Internetkunden-Detektivarmee
Anvil Cases, ein Hersteller hochstabiler Versandbehälter aus City of Industry, einer Stadt nahe Los Angeles in Kalifornien, stellt seinen Kunden detaillierte Anweisungen und Diagramme zur Verfügung, die ihnen zeigen, wie das Innere eines Behälters einrichten müssen, um fragile Gegenstände, wie Computerbildschirme oder ein empfindliches Musikinstrument, zu transportieren. Das Unternehmen sammelt die angefertigten Designs, um Behälter für zukünftige Kunden zu produzieren, die gleiche oder ähnliche Gegenstände transportieren möchten.
"Um Produktivität von ihnen zu erhalten, muss man Kontrolle aufgeben," sagt Eric Raymund, der Präsident der Open-Source-Initiative ist und als einer der Führer der Open-Source-Bewegung gilt. Zwei weitere Bedingungen sind erstens offenen und ehrliche Antworten auf Fragen und zweitens die öffentliche Honorierung erbrachter Leistungen.
Und Unternehmen, die sich der Loyalität einer Internetkunden-Detektivarmee sicher sein können, nun, die werden noch besser abschneiden. Wie Doug Lombardi, der Marketingleiter von Valve, erklärt, wurden die Hacker, die Hal-Life 2 gestohlen hatten, von echten Fans aufgespürt und sechs Monate, nachdem das Unternehmen seinen Hilferuf gestartet hatte, verhaftet. "Die Entwicklung des Spiels hatte fünf Jahre und mehrere Zehntausend Dollar verschlungen," sagt Lombardi. "Es war schön Hilfe zu bekommen."

S. 177)
Mensch und Maschine – produktives Chaos und unproduktives
Leider sind Computersysteme jedoch strukturierte und relativ unflexible Angelegenheiten, mit denen nur auf eine bestimmte Weise gearbeitet werden kann. Und Menschen neigen wiederum dazu, auf ganz verschiedene und weniger vorhersehbare Arten zu reagieren. Oftmals wird die Neigung zu einer chaotischen und unberechenbaren Arbeitsweise von den IT-Entwicklern ignoriert. Die Menschen werden sich schon an ein Computersystem anpassen, wenn es nur nützlich genug ist, so ihre Annahme – eine schreckliche Fehleinschätzung. Das Ergebnis ist ein unproduktives Chaos zwischen Computersystemen und den Leuten, die mit ihnen umgehen müssen.
Da kann es hilfreich sein, einen weniger geordneten Ansatz für die Entwicklung von Computersystemen zu wählen.

S. 178 f.)
Humus für Genialität
Die meisten Menschen sind sich der exzentrischen Art, mit der sie ihre eigenen Arbeitsprozesse organisieren, überhaupt nicht bewusst.
Joseph Goguen zufolge können jedoch ebenso viele Leute im Brustton der Überzeugung aufzählen, was sie von einem System erwarten. Wenn sie dann das Ergebnis zu sehen bekommen, ändern sie ihre Meinung wieder. Der Trick bestehe, so Goguen, darin, eine schnellere, billigere und chaotischere Methode zu finden, um diese Art des Sinneswandels aufzudecken. Das wäre effektiver, als einen langen, komplexen und ordentlichen Systementwicklungsprozess zu durchlaufen.

S. 182)
No Rules of Engagement
1982 gründete Rutan das Unternehmen Scaled Composites, das Flugzeuge und Prototypen entwickelt und das mittlerweile zu einem ausgedehnten Dorf aus Wellblechgebäuden in einer windigen Ecke der Mojave-Wüste geworden ist, 100 Meilen nordöstlich von Los Angeles.
Was sind die Regeln von Rutans Management, mit denen er seine Firma auf Kurs hält? Er behauptet, er habe keine. "Ich mag keine Regeln," sagt er. "Die Dinge sind viel leichter zu ändern, wenn sie nicht aufgeschrieben wurden." Rutan glaubt, gutes Management funktioniere in etwa so wie Flugzeugbau. Statt zu versuchen, die beste Methode für etwas zu finden und sich dann starr daran zu halten, sollte einfach ein Ansatz ausprobiert werden, um ihn dann weiter zu verbessern.

S. 186)
Out of the barracks
Geld, Zeit, Fähigkeiten und Ressourcen sind immer begrenzt, jedoch nicht die Möglichkeiten, diese zu investieren. Der Manager sorgt deshalb dafür, das große, chaotische Universum der Wünsche und Forderungen in Ordnung zu halten.
Das ist auch der Grund, warum der Vorstand des Griffin Hospitals (in Derby, Connecticut) so schockiert war, als Charmel sich dafür aussprach, nicht zu reduzieren oder Prioritäten zu setzen, sondern einfach alles auf der Liste umzusetzen. "Wir haben sie gefragt, was sie wollen, und sie haben es uns gesagt," sagte Charmel. "Jetzt sollten sie auch bekommen, was sie gefordert haben." Der Vorstand stimmte widerwillig zu. Allerdings würde Charmel pro Quadratmeter nicht mehr Geld ausgeben dürfen als das, was andere Krankenhäuser im gleichen Staat durchschnittlich für ihre Gebäude veranschlagen.
Die neue Geburtshilfestation hatte Räume, in denen Familien zusammenkommen konnten. Sie hatte Oberlichter. Sie hatte einen Whirlpool – Nachforschungen zeigten, die Sorge um die Infektionsgefahr war ein Mythos. Die Station bekam eigens angefertigte Doppelbetten, und es wurden extra Geburtshilfekurse für Kinder und Großeltern angeboten. Jeder Patientin wurde eine eigene Schwester als direkte Ansprechpartnerin zur Verfügung gestellt, die dafür sorgte, dass all ihre Bedürfnisse erfüllt wurden und dass die Ärzte sich um ihre Probleme kümmerten. Der neue Flügel wurde nicht teurer als geplant, weil mit Unternehmern aus der Umgebung zusammengearbeitet wurde. Wichtiger war aber: die Reaktion der Patientinnen war von Anfang an sehr enthusiastisch. Nur einige der Schwestern beschwerten sich bei Charmel über das Fehlen von Routine und Ordnung auf der Station. Schwärme von Familienmitgliedern und Freunden nutzten die Gemeinschaftsräume für Pizzapartys und Kartenspiele bis tief in die Nacht. "Großartig," antwortete Charmel. "Dafür haben wir die Räume gebaut." Ehemänner kamen, nachdem sie in der Spätschicht gearbeitet hatten, und schlüpften ins Doppelbett zu ihren Frauen – dabei weckten sie Mutter und Baby auf. "Was passiert, wenn wir sie morgen entlassen?," argumentierte Charmel. "Er wird von der Spätschicht heimkommen und seine Frau und sein Baby aufwecken. Solange sie sich nicht beschweren, warum sollen sie sich nicht hier schon daran gewöhnen?" Viele der Schwestern und Ärzte schimpften über die neuen, scheinbar endlosen Forderungen der Patientinnen, und einige kündigten. Doch als sich die Kunde von dieser merkwürdigen neuen Station verbreitete, begannen erstklassige Geburtshelfer, darunter junge Ärztinnen, die von vielen werdenden Müttern bevorzugt wurden, sich aktiv im Griffin zu bewerben. Und die Patientenzahlen verdoppelten sich.

S. 193)
Ein Schuss Chaos
Unterdessen war Anderson entschlossen, Novells bequemer Firmenkultur etwas von de Icazas energiegeladenem chaotischem Stil zu injizieren. Er nahm de Icaza mehrmals nach Provo in die Novell-Unternehmenszentrale mit, wo er ihn ermutigte, sich umzuschauen und die wahre Lehre der Open-Source-Philosophie zu verbreiten. Laut Matt Asay, Business Office Director bei Novell, dauerte es etwas, bis sich die Mitarbeiter an "diesen unkonventionellen Eindringlinge" gewöhnt hatten. "Den Leuten war zuerst ein bisschen unbehaglich," sagte er. Doch einige Veränderungen etablierten sich. Andersons Programmierern, die es gewohnt waren, die Details ihrer Projekte in Konferenzräumen oder über die Wände angrenzender Bürozellen hinweg zu diskutieren, verloren nach und nach die Scheu davor, ihre Arbeit täglich ins Netz zu stellen und die Beiträge von Programmierern, die sie nie zuvor getroffen hatten und die sie nur über das Internet erreichten, einzuarbeiten. Sie lernten die vielen unterschiedlichen Herangehensweisen der neuen Mitarbeiter zu tolerieren. "Wenn es drei verschiedene Wege gibt etwas zu tun, dann wird Miguel kein Machtwort sprechen," sagt Anderson. "Das ist vielleicht nicht effizient, aber wenn man diesen Leuten sagt, dass sie es nicht auf ihre Weise machen könne, dann werden sie wahrscheinlich aussteigen."
Seit dieser Zeit konzentriert sich Novell völlig auf das Open-Source-Programmieren. 2004 verlegte das Unternehmen sogar sein Hauptquartier von Provo nach Waltham, Massachusetts, 20 Minuten von Ximian entfernt. All diese Veränderungen haben die Novell-Aktien auf den doppelten Wert ansteigen lassen. In letzter Zeit hatte Novell auch mal wieder einige Quartale, die nicht so gut ausfielen. Allerdings nicht, weil das Unternehmen in das Lager der Open-Source-Gemeinde übergelaufen ist, sondern vor allem weil so viele andere Firmen seinem Beispiel gefolgt sind. Nur acht Monate nach der Bekanntgabe von Novells neuem Open-Source-Engagement verkündeten drei der größten Unternehmen der Computerindustrie – IBM, Sun und (ausgerechnet) Microsoft – sie wollten nun auch große Teile ihrer jeweiligen Produktlinien in den Open-Source-Bereich verschieben.
De Icazas und Andersons Bemühungen, die wilde Welt des chaotischen Programmierens mit der Ordnung der Softwareentwicklung zu vereinigen, hat dazu beigetragen, den Weg der Computerindustrie für die nächsten Jahre vorzugeben.

S. 216)
Balance oder das optimale Maß
In der Regel sind Menschen und Organisationen dann in Topform, wenn sie für sich einen interessanten Mix aus Chaos und Ordnung gefunden haben. In diesem Sinn sind Chaos und Ordnung zwei variable Größen, mit denen Sie herumspielen und experimentieren sollten, anstatt nach immer mehr Ordnung und Organisation zu streben. Die richtige Chaos-Formel ist ganz einfach und funktioniert im privaten, beruflichen und technischen Bereich: Versuchen Sie, ein wenig chaotischer zu sein und schauen Sie, ob sich eine Verbesserung ergibt. Wenn ja, verstärken Sie das Chaos noch ein wenig. Machen Sie weiter, bis Sie das Gefühl haben, die Situation verbessert sich nicht weiter. In diesem Fall sollten Sie vielleicht wieder ein wenig mehr Ordnung halten. Verstehen Sie das Prinzip?
Aus theoretischer Sicht ist leicht einzusehen, warum es ein optimales Maß für das Chaos gibt.

S. 235)
Aufmerksamkeit mit Überschussgeschwindigkeit
Anfang 2005 hielten Hallowell und sein Koautor Ratley einen Vortrag in der öffentlichen Bibliothek der kleinen, sauberen Pendlerstadt Wellesley, Massachusetts. Ein dicht gedrängtes Publikum von etwa 150 Leuten – die meisten davon offenbar Eltern von ADHS-Kindern – lauschte den beiden mit einer Art verzweifelter Dankbarkeit. Die Krankheit könne nicht nur eine schwere Prüfung, sondern auch ein wirkliches Geschenk sein, betonten beide. "Ich würde mein ADHS um nichts n der Welt eintauschen," sagte Hallowell. "Was mich betrifft, leiden Sie alle an einem Übermaß-an-Aufmerksamkeit-Syndrom." Er beschrieb das Denken von ADHS-Patienten als einen "Ferrari mit Chevrolet-Bremsen". Damit meint er, dass Menschen mit ADHS oft viel intensiver und über mehrere Dinge nachdenken würden als der Rest von uns, wenn auch weniger kontrolliert. "Eigentlich sollte man es nicht als Defizit von Aufmerksamkeit betrachten," sagte er. "Es ist eine wandernde Aufmerksamkeit."
Seit der Antike und bis vor nicht allzu langer Zeit gab es für diese Art des Denkens das, was Hallowell eine "moralische Diagnose" nennt: es wurde als schlechtes Benehmen verurteilt und Leute, die diese Symptome zeigten, als faul. Demütigungen und Prügel waren die typischen Disziplinierungsmaßnahmen. Doch mit Toleranz und Unterstützung, sagt Hallowell, erwiesen sich ADHS-Patienten oft als kreativer und produktiver als andere Menschen. Er selbst hatte das Glück, in der ersten Klasse eine ungewöhnlich verständnisvolle Lehrerin zu haben.

S. 247) Die kreative Befruchtung der Kunst durch Chaos-Elemente ist auch in Malerei und Bildhauerei deutlich ausgeprägt. In Japan ist das in gewisser Weise ein alter Hut. Die Tradition des Wabi-Sabi – also die Schönheit des Unvollkommenen – ist dort über 500 Jahre alt.
Der Westen hat ein wenig länger gebraucht um die Ästhetik des Chaos zu begreifen.