January 17, 2011

Das Ende der Unvergleichbarkeit



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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S. 55) Kollektivistische Christlichkeit und explosive Machterweiterung

"Um zu verstehen, dass kollektivistische Christlichkeit eine signifikante religiöse Macht ist, die in Europa auf vielfältige Weise zu beobachten ist, und um zu verstehen, was diese Christlichkeit für die Europäische Union bedeuten mag, muss man begreifen, was belonging in diesem Kontext meint. Dieses belonging ist spezifisch, historisch eingebettet und öffentlich – also eine Besonderheit, die das Kollektivchristentum beispielsweise mit dem Islam teilt. Auch wenn dieses belonging nicht mit believing zusammenfällt (wie Sozialwissenschaftler triumphal erklären), hat es einen vom westlich-europäischen Christentum klar zu unterscheidenden Charakter: Es ist gewiss nicht privat, und es ist gewiss nicht deinstitutionalisiert." (Slavica Jakelic 2006: "Secularisation, European Identity, and 'The End of the West'" in "The Hedgehog Review" no. 8, "After Secularization" p. 137)
Wenn von der Wiederbelebung der Religionen in Europa die Rede ist, muss auch folgender Widerspruch ins Blickzentrum gerückt und entziffert werden: Auf der einen Seite vollzieht sich ein grundstürzender Zerfall der religiösen Macht – immer weniger Menschen gehen in die Kirchen. Auf der anderen Seite vollzieht sich gleichzeitig eine geradezu explosive Machterweiterung der Kirche durch die im wahrsten Sinne des Wortes grenzensprengende Aufmerksamkeit für das massenmedialisierte Papsttum.



S. 57) Religiöse Gefühligkeit wie dichte Nebelschwaden

Die Weltkirche, massenmedial inszeniert und erfahrbar geworden, mobilisiert die gesamte subjektive Fragezeichen-Kultur. "Wenn sich religiöse Gefühligkeit wie dichte Nebelschwaden über die kalte Gesellschaft legt, dann muss es ernste Gründe geben. Offenkundig leben wir heute in einer Art Zeitenwende des Religiösen."
(Werner Weidenfeld – Vorstandsmitglied Bertelsmann Stiftung)
Der Katholizismus zelebriert eine Kultur des Auges.
Deren massenmediale Globalisierung ermöglicht ein weltumspannendes Anwesendsein, eine Anteilnahme ohne verpflichtende Mitgliedschaft, die die freifluktuierende Religiosität
– wenigstens eine Weltsekunde lang – zu binden vermag.


S. 60 f.) In der neuen Kommunikationsdichte der Welt endet die in der nationalen Territorialordnung begründete Unvergleichbarkeit der Religionen. Es ist dieser zeithistorische Kontext einer gemeinsamen Gegenwart und universellen Nachbarschaft aller religiösen Glaubens- und Symbolsysteme, in dem die Individualisierung [...] möglich und notwendig wird. [...] Kiran Desai beschreibt eine solche Szene des existentiellen Religionsvergleichs in ihrem Buch "The Inheritance of Loss".



S. 62 f.) Eine neue Weltgesellschaftlichkeit – Chance und Gefahr

Der Beitrag der Religionen zu den Gesellschaftsbildern der nationalstaatlichen Moderne liegt zum einen in der Verschmelzung von Nation und Religion, wie sie im "säkularen Nationalismus" oder in den nationalen "Zivilreligionen" zum Ausdruck kommen. Kein Zweifel, diese sind nach wie vor prominente Träger religiös geprägter kollektiver Identitäten.
Aber in der Globalisierung bildet sich eine neue religiös bestimmte Weltgesellschaftlichkeit heraus, in der transnationale, religiöse imagined communities, in Ergänzung, Konkurrenz und Konflikt mit den institutionalisierten Formen von Nationalgesellschaften und Nationalinstituten, an Bedeutung gewinnen.
Das erinnert an Samuel Huntingtons These vom "clash of civilizations". Dessen Schlussfolgerung ist voreilig. Huntington denkt die weltreligiös bestimmten "Zivilisationen" als territoriale Einheiten, analog zu Nationalstaaten und imperialen Supermächten, was ihn dazu verführt, zukünftige globale Konflikte entlang dieser religionszivilisatorischen Konfliktlinien vorherzusagen. Das Umgekehrte trifft zu: Die Auflösung dieser territorialen Einheit von Religion, Nation und Gesellschaft ist es, die am Beginn des 21. Jh.s zur Quelle von beidem – Chancen und Bedrohungen der Weltreligionen – wird.
Globalisierung eröffnet den alten Weltreligionen die Möglichkeit, sich aus den territorialen Zwängen des Nationalstaates herauszulösen und die transnationale, transethnische Dimension, die in ihrer Geschichte begründet liegt und durch die nationalstaatliche Ordnung verschüttet wurde, zu entdecken und neu zu entfalten. Zugleich entsteht daraus insofern eine große Bedrohung, weil die Globalisierung eine Deterritorialisierung aller kulturellen Systeme voraussetzt und forciert, also die essentiellen Bindungen von Traditionen, Völkern und Territorien auflöst, die die weltreligiösen Zivilisationen (die Huntington vor Augen stehen) definiert haben.



S. 70 f.) Das Adjektiv "religiös"

Es ist deshalb sinnvoll und nötig, zwischen Religion und religiös, zwischen Religion als Substantiv und als Adjektiv zu unterscheiden.
Das Substantiv "Religion" ordnet das religiöse Feld nach der Logik des Entweder-Oder. Das Adjektiv "religiös" dagegen ordnet es nach der Logik des Sowohl-als-Auch. Religiös sein setzt nicht die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Organisation voraus. Es bezeichnet vielmehr eine bestimmte Einstellung zu den existentiellen Fragen des Menschen in der Welt.
Das Substantiv "Religion" geht also vom Bild der getrennten Handlungssphären mit klargeschnittenen Grenzen (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und auch Religion) aus.
Das Adjektiv "religiös" trägt dagegen dem Verschwimmen und der Grenzenlosigkeit des Religiösen mit all seinen Paradoxien und Widersprüchen Rechnung und ermöglicht dementsprechend, die synkretistische Alternative zum monotheistischen Substantiv "Religion" überhaupt ins Blickfeld zu rücken.



S. 79) Imperiales Universalchristentum

Im Kolonialismus ist die Nachtseite des christlichen Universalismus Realität geworden. Kolonialismus ist zwar so alt wie die Zivilisation und ist integraler Teil der Geschichte nahezu aller Religionen und Zivilisationen, im Osten wie im Westen, allerdings kam der moderne westliche Kolonialismus dem Ziel einer globalen Herrschaft des universalen Christentums näher als irgendeine andere Kolonialisierungsbewegung. Mit der Kategorie des Ungläubigen, den es um seines eigenen Seelenheils willen zu bekehren gilt, legitimierten sich unvorstellbare Gewalt und Grausamkeit. [...] Kolumbus [...] vertrat den Grundsatz,

"'dass diejenigen, die nicht bereits Christen sind, nur noch Sklaven sein können,' folglich die Ausbreitung des Glaubens und die Versklavung 'unlösbar miteinander verbunden sind'." (Angenendt 2007: "Toleranz und Gewalt – Das Christentum zwischen Bibel und Schwert" S. 468)

Formal freier Taufentscheid, Gewalt(androhung) und die "Missionsschule", die einen Individualisierungs- und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess in Gang setzen sollen, gehen eine paradoxe Verbindung ein.

"Im 'Requerimiento', einem 1513 erlassenen Gesetz, erhielt dieses Programm seine Rechtsform.
Es wurde den Indios vorgelesen und dabei die vollzogene Eroberung als theologisch legitim, als 'gerechter Krieg', dargestellt. Zusammen mit einer Kurzkatechese über die Schöpfungsgeschichte der Welt und die Erlösung durch Jesus Christus erfolgte eine Belehrung über die Autorität des Petrus, dem alle Macht, Vorherrschaft und Jurisdiktion auf der Welt übergeben sei, sowie über die Autorität des Papstes, der bestimmte Länder Amerikas dem König von Spanien geschenkt habe und deren Einwohner nun dessen Vasallen seien." (Angenendt S. 467)

Der mit Wohlwollen gepfefferte Zynismus, mit dem hier zur "freien" Entscheidung für den katholischen Glauben aufgerufen wird, ist schwer zu überbieten:

"Deswegen bitten und ersuchen wir euch nach bestem Vermögen, dass ihr auf unsere Rede hört und eine angemessene Weile darüber beratet, dass ihr die Kirche als Oberherrn der ganzen Welt und in ihrem Namen den Hohepriester, Papst genannt, sowie an seiner Statt Seine Majestät als Herrn und König dieser Insel und dieses Festlandes kraft der erwähnten Schenkung anerkennt und euch einverstanden erklärt, dass die hier anwesenden Ordensbrüder euch das Gesagte erklären und verkünden. Handelt ihr danach, dann tut ihr recht und erfüllt eure Pflicht. Dann werden seine Majestät und ich in Ihrem Namen euch mit Liebe und Güte behandeln, euch eure Frauen und Kinder frei und ohne Dienstbarkeit belassen [...] Man wird euch in diesem Falle nicht zwingen Christen zu werden [...] Wenn ihr das aber nicht tut und böswillig zögert, dann werde ich, das versichern wir euch, mit Gottes Hilfe gewaltsam gegen euch vorgehen, euch überall und auf alle nur mögliche Weise mit Krieg überziehen [...] eure Frauen und Kinder zu Sklaven machen, sie verkaufen und über sie nach dem Befehl seiner Majestät verfügen." (Angenendt S. 467 f.)


S. 86 f.) Freischwebende Religiosität

In den unscharfen Glaubensformen des "eigenen Gottes" könnte (um eine Formel von Odo Marquard aufzugreifen und abzuwandeln) eine subjektiv gewollte und verwirklichte Gewaltenteilung "im Absoluten" entstehen, die sich gegen den Alleinanspruch der monotheistischen Religionen richtet.
(Marquard 1995: "Lob des Polytheismus" S. 90-116)
Dass diese synkretistische Toleranz sich nicht nur unbemerkt im Raum der freischwebenden Religiosität ausbreitet (und, wenn überhaupt, in Europa mit mehr oder weniger großer Verachtung zur Kenntnis genommen wird), sondern auch in institutionellen Formen mit großer Selbstverständlichkeit praktiziert wird, kann man in Japan beobachten. Den Menschen dort ist es kein Problem, zu bestimmten Jahreszeiten einen Shinto-Schrein zu besuchen, die Heirat nach christlicher Zeremonie auszurichten und sich von einem buddhistischen Mönch beerdigen zu lassen. Das Erstaunen darüber resultiert aus dem monotheistischen Horizont der Gott-Monogamie ("Du sollst keine fremden Götter haben neben mir!"), der nicht nur dem japanischen Milieu des Religionseklektizismus, vielmehr ganz Ostasien fremd ist. Der Religionssoziologe Peter Berger berichtet von dem japanischen Philosophen Nakamura, der festgehalten hat,

"dass der Westen für zwei fundamentale Fehler verantwortlich ist. Der eine ist Monotheismus – es gibt nur einen Gott – und der andere ist das aristotelische Prinzip des Widerspruchs – etwas ist entweder A oder Nicht-A. Jeder intelligente Mensch in Asien, sagt er, weiß, dass es viele Götter gibt und dass Dinge sowohl A als auch Nicht-A sein können." ("An Interview with Peter Berger" in "The Hedgehog Review" no. 8, "After Secularization" p. 152-161)


S. 92 f.) Newtonsche Eindeutigkeit weicht Heisenbergscher Mehrdeutigkeit

Entsprechend kann man die Theorie reflexiver Modernisierung in drei komplexe Argumente auffächern – das Theorem der (Welt-)Risikogesellschaft, das Theorem forcierter Individualisierung und das Theorem mehrdimensionaler Globalisierung. Alle drei arbeiten die gleiche Argumentationsfigur aus und interpretieren, verstärken sich dabei wechselseitig: "Risikogesellschaft", "Individualisierung" und "Globalisierung" (bzw. "Kosmopolitisierung") sind radikalisierte Formen einer Modernisierungstechnik, die am Beginn des 21. Jh.s, auf sich selbst angewendet, die einfache Modernität auflöst. Diese einfache Modernität folgte einer Ordnungs- und Handlungslogik, die trennscharfe Grenzen zwischen Kategorien von Menschen und Religionen, Dingen und Tätigkeiten zog und klare Unterscheidungen zwischen Handlungssphären und Lebensformen traf, die ihrerseits eindeutige institutionelle Zuschreibungen von Zuständigkeiten, Kompetenzen und Verantwortungen ermöglichten. Diese Logik der Eindeutigkeit – man könnte in einer Metapher von der Newtonschen Gesellschafts-, Religions- und Politiktheorie der Ersten Moderne sprechen – wird durch eine Logik der Mehrdeutigkeit – man könnte von einer Heisenbergschen Unschärferelation des Gesellschaftlichen, Religiösen und Politischen sprechen – ersetzt. Selbstverständlich kennt auch die klassische soziologische Theorie Krisen und Funktionsstörungen, aber diese bildeten die Ausnahme. Die Vorstellung, dass die Grundlagen der modernen Welt gleichsam mit ihrem Sieg porös, aufgelöst oder in ihrer Bedeutung umgepolt werden, ist der sozialwissenschaftlichen Klassik, aber auch neueren soziologischen Theorien fremd.


S. 97) Das Faszinosum kosmopolitischer Religiosität

Die fremde Religion, die Religion des Fremden wird nicht als bedrohlich, desintegrierend, fragmentierend erfahren. Sie gilt vielmehr als bereichernd und wird entsprechend positiv bewertet. Es ist die Neugierde auf mich selbst und das Anderssein, die die Anderen für mich unersetzbar macht. Es gibt einen Egoismus der kosmopolitischen Religiosität: Wer die religiösen Traditionen und Perspektiven der Anderen in das eigene religiöse Erleben integriert, erfährt mehr über sich selbst und die Anderen. Hier liegt sicherlich das Faszinosum des eigenen Gottes begründet und damit auch die Entkopplung von Religion und Religiosität.


S. 99 f.) Karl Rahners postmoderne Dreifaltigkeit

Gibt es auch Ansätze einer "kosmopolitischen Theologie"?
Wie Francis Schüssler Fiorenza in seinem Aufsatz "Karl Rahner – A Theologian for a Cosmopolitan 21st Century" (2006) schreibt, liegt der Schlüssel zu Rahners religiöser Vision in einem dreifachen Zusammenhang, der die Grundlage seiner Theologie bildet:

"Dem Zusammenhang zwischen Wissen um das menschliche Selbst und dem Wissen um Gott, dem Zusammenhang zwischen Nächstenliebe und Gottesliebe, sowie dem Zusammenhang zwischen Liebe und Wissen. [...] Dieser dreifache Zusammenhang wird oft übersehen, wenn man Rahners Anthropologie ein abstraktes Aufklärungskonzept der Autonomie oder des Selbstinteresses zuschreibt. Dabei hat er [der dreifache Zusammenhang] wesentliche Implikationen für das Verständnis der menschlichen Würde und Rechte, die das Religiöse bestimmen. Dieser dreifache Zusammenhang schafft die Offenheit im Verständnis menschlicher Würde und Rechte für den kosmopolitischen Dialog und schafft dafür zugleich die transzendenten religiösen Grundlagen. Freiheit ist gebunden an die Verantwortung für den (religiösen) Anderen und an den Gehorsam gegenüber Gottes Willen. [...] Als Christen sind wir mit einer Welt konfrontiert, die global und kosmopolitisch geworden ist, einer Welt, die sich der Spannung zwischen dem Verlangen nach Gerechtigkeit und der zunehmenden Ausbeutung und Ungerechtigkeit immer bewusster wird. [...] Rahners komplexe und vielgesichtige Theologie antwortet darauf mit einer angemessenen theologischen Vision."

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