January 22, 2011

Harte Religionsprodukte haben Konjunktur



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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S. 201 f.) Der Kern der Moral als universeller Esperanto-Gott

Viele (religiöse Verbände wie Gläubige) versuchen, den religiösen Weltkonflikten dadurch die Brisanz und Militanz zu nehmen, dass sie vom gemeinsamen Glauben aller monotheistischen Religionen an den gleichen Gott sprechen und die geteilten abrahamitischen Wurzeln der drei großen Weltreligionen betonen.
Gibt es nicht ein universelles "Weltethos", fragt Hans Küng (1990: "Projekt Weltethos"), das sowohl den Weltreligionen als auch individualisierten spirituellen Suchbewegungen zugrunde liegt? Ja, das ist der Fall, lautet seine Antwort. (2007: "Die Globalisierung der Moral") [...]

"Ebenso war Konfuzius der erste, der die goldene Regel der Gegenseitigkeit formulierte: 'Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.' Diese goldene Regel taucht jedoch auch in der indischen Tradition auf. Im Jainismus wird sie folgendermaßen ausgedrückt: 'Ein Mensch sollte alle Geschöpfe so behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte.' Im Buddhismus: 'Ein Zustand, der für mich nicht angenehm oder schön ist, muss so auch für ihn sein. Und wie könnte ich einen Zustand, der für mich nicht angenehm oder schön ist, einem anderen aufbürden?' Im Hinduismus: 'Man sollte sich anderen gegenüber nicht in einer Weise benehmen, die einem selbst unangenehm ist. Das ist der Kern der Moral.'
Diese goldene Regel ist natürlich auch in den abrahamitischen Religionen zu finden.
Rabbi Hillel (60 v. Chr.) sagte: 'Was für dich selbst schädlich ist, das füge deinen Mitmenschen nicht zu.' Jesus drückte dies positiv aus: 'Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!' Auch der Islam verfügt über ein ähnliches Konzept: 'Keiner von euch glaubt, bis er für seinen Bruder das wünscht, was er sich selbst wünscht.' [...] Diese kulturübergreifenden ethischen Regeln sind struktureller Bestandteil einer gemeinsamen humanen Ethik, egal wie wir sie nennen, und lassen die Vorstellung eines tiefen Gegensatzes zwischen 'asiatischen' und 'westlichen' Werten nahezu irrelevant werden."

Wie unterscheidet sich ein solcher, eigentlich naheliegender, religiöser Universalismus von dem Kosmopolitismus des Religiösen? Universalismus heißt: Die religiösen Unterschiede werden eingeebnet, so dass die Gemeinsamkeit zwischen ihnen im kleinsten gemeinsamen moralischen Nenner besteht. Der Kosmopolitismus betont dagegen die Würde und Bürde der Differenz, das unauflösbare In- und Gegeneinander von Universalismus und Partikularismus (Sznaider, Gedächtnisraum Europa). Vom Standpunkt des (europäischen) Universalismus aus ist der eigene der universelle Gott. Der universelle Gott aber ist der Esperanto-Gott, der die Besonderheiten der religiösen Sprachen und Traditionen geringschätzt und zugunsten einer Esperanto-Religiosität aufhebt.
Das ist ein Irrweg, da der Universalismus des kleinsten Nenners die Würde der Einzigartigkeit der Weltreligionen missachtet und verletzt.
Der universelle Gott ist überdies der erobernde Gott, der Gott der Kreuzritter. Die anderen – die "Heiden" – müssen in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse "gerettet" und bekehrt werden. Der universalistische Gott – diese bittere Lehre enthält die Geschichte – ist der Gott der Kolonisatoren: "the white men's burden."



S. 205) Artisten der Grenze

Manche sehen angesichts des "Prämissensterbens" der nationalstaatlichen, industriekapitalistischen Ersten Moderne ein alternatives Proletariat heranreifen: den "Regenbogen" oder – wie Hardt und Negri es nennen: die "multitude". Als "Geh-her-da" der Weltrevolution (Bertolt Brecht) fungieren hier der "Durchschnittliche Migrant" und der "Politische Islamismus" im Handel. Wenn es richtig ist, dass sich in der Zweiten Moderne die Grenzen verwischen und mischen, dann verkörpert der "Durchschnittliche Migrant" die sich vermischenden Grenzen zwischen Religionen, Nationen, Staaten. Der "Durchschnittliche Migrant" muss, um zu überleben, ein Artist der Grenze werden (des Unterlaufens der Grenze, des Nutzens der Grenze, des Setzens der Grenze, des Überbrückens der Grenze usw.), und er oder sie kann vom Hochseil des Grenzen-Nutzens abstürzen, auf dem er oder sie balanciert.
[...] All das besagt nicht, dass sie als das gesuchte Subjekt der kosmopolitischen Revolution in Frage kommen. Dagegen spricht nicht nur ihre Vielheit, die die (organisatorische) Einheit verweigert. Vor allem bedeutet es einen kosmopolitischen Fehlschluss, von den Widersprüchen der transnationalen Lage auf ein kosmopolitisches Bewusstsein und Handeln des "Durchschnittlichen Migranten" zu schließen. Das Gegenteil ist nicht weniger, vielleicht sogar eher wahrscheinlich: Reethnisierung und religiöser Fundamentalismus.
Und doch verkörpert der "Durchschnittliche Migrant" das Modell eines experimentellen Kosmopolitismus von unten, eines Kosmopolitismus der Ohnmacht, in dem ein Minimum an Perspektivwechsel, dialogischer Imagination und erfinderischem Umgang mit den in die Grenzregime eingebauten Widersprüchen zur Voraussetzung des Überlebens wird.

"Der neue Typus eines migrantischen Alltagskosmopoliten entwickelt seine Kompetenzen, mit Fremdheit umzugehen, durch die Grenzerfahrungen der Kulturalisierung und Ethnisierung.
In den Einwanderungsgesellschaften werden Migranten geradezu zwangsläufig Experten für das kulturelle Unterscheidungssystem, das sie zu ethnisch Fremden macht, vor allem auch für seine banalen Erscheinungsweise im Alltag.
Auf der Grundlage dieser Erfahrungen entsteht ein Reservoir an 'Etiketten' für die eigene Gebrauchskultur: z.B. für eine zeitweilige strategische Selbst-Ethnisierung oder für die vielen Formen von 'Ethno-Mimikry', die sich dem Multikulturalismus andienen, um ihn zu überlisten. [...]
Diesem Kosmopolitismus haftet weder die Lust, noch die Last der Differenz an. Kultur und Identität sind hier keine autonomen Horizonte, die es im Sinne einer weltbürgerlichen Fortbildung zu erweitern gilt. Sie sind vielmehr untrennbar verbunden mit einer langen Geschichte hegemonialer Kultur- und Identitätspolitik, die zwangsläufig auch ein Teil der jeweils eigenen, subjektiven Geschichte ist. Und so entwirft dieser Kosmopolitismus auch keine Utopien gleichsam paradiesischer, postnationaler Zustände, sondern allenfalls prekäre Heterotopien, die den Traum vom besseren Leben jenseits der Grenzen ganz praktisch und politisch, im Rahmen des Machbaren, anvisieren." (Regina Römhild 2007: "Migranten als Avantgarde?")

Zweifellos signalisiert das weltöffentliche Echo auf die Terrortaten des politischen Islamismus und die darauffolgende tiefe Verunsicherung und Besorgnis des Westens das weltpolitische Bedrohungspotential dieser religiös-politischen Bewegung der modernisierten Anti-Moderne.
Aber genau das markiert auch deren Grenzen: Sie verspricht zwar den vom westlichen Modernisierungsprozess Niedergewalzten die Wiederherstellung ihrer Würde. Doch sie hat keine Antworten auf die zivilisationsbedingten Zivilisationsprobleme der Weltrisikogesellschaft – es sei denn den Ausstieg aus der Moderne.
Man kann sich gewiss auch katholisch in die Gegenmoderne zurückziehen und mit nicht enden wollenden gegenreformatorischen Eifer unablässig die Grundsätze der Dogmatik blank putzen ("Fegefeuer" usw.), aber dann verfehlt man die Schlüsselfrage, inwieweit das wiederbelebte Christentum die intellektuelle Kraft findet, eine bessere Moderne zu imaginieren, die aus der Mitte reflexiver Modernisierung kommt.



S. 207) Paulus' hellenisierter Christus-Messianismus als Glaubenskonzern

Was müssen die Weltreligionen selbst dazu beitragen, um das weltreligiöse Gewaltpotential, das sich in Europa seit mindestens 500 Jahren in der Realität entlädt, zu zivilisieren?
Religionsgeschichte ist Geschichte von deren Globalisierung seit ihrem Ursprung. Was das Christentum betrifft, so war es Paulus, ein hellenistischer Jude, der mehr als jeder andere die Jesus-Bewegung von einer jüdischen Sekte in eine globale Religionsbewegung mit universalistischem Anspruch verwandelte. "Geht hinaus in die ganze Welt!"
Globalisierung der Religion heißt, in Begriffe gefasst, "Kreuzzüge", "Überwindung von Blutbanden", "Kolonialismus", "Universalismus", "Verteufelung der religiösen Anderen" usw. Diese Globalisierung wird nicht aufgezwungen, sie ist Missionsarbeit. "Die Kirche ist ihrer Natur nach missionarisch," bringt Papst Johannes Paul II. in einer Missions-Enzyklika von 1990 dieses grundlegende Merkmal auf den Punkt.
Globalisierung ist Globalisierungsarbeit, ist Religionsarbeit, ist Arbeit an und gegen religiöse Andere, ist weltweite Arbeit an Grenzen, genauer: äußerst widersprüchliche Grenzarbeit. Religionen sind riesige transnational operierende Mauerabriss- und Mauerbaukonzerne seit Hunderten von Jahren – gegeneinander, miteinander, über ethnische, nationale Grenzen, ja Kontinente hinweg – die mit den Herrschaftssystemen in den Epochen ihrer Dominanz zutiefst verwoben sind. Ketzerisch kann man allerdings gleichzeitig fragen, inwieweit die Uhren der Religionsgeschichte stehen geblieben sind, weil die "Glaubenskonzerne" – zeitlos – wie in einer Endlosschleife die ihnen innewohnenden Konflikte austragen.
Alle Komponenten religiöser Globalisierungsarbeit – die Aufhebung sozialer und politischer Grenzen sowie der Grenzbau zwischen Richtig- und Falschgläubigen – beziehen sich auf den Horizont der Weltgesellschaft.
Man kann weder die Destruktion nationaler noch die Konstruktion religiöser Grenzen nur im nationalen Rahmen denken oder praktizieren. Die religiöse Entkopplung von Gesellschaft und Nationalgesellschaft sprengt die Territorialität und Ethnizität des Gesellschaftsbegriffs und ereignet sich im Bezugsrahmen der "Menschheit".



S. 210 f.) Wir alle sind Stuttgart

Aber dann ist da auch das ganz normale, unbekannte Stuttgart. Wer weiß, dass rund ein Drittel, d.h. 200.000 Stuttgarterinnen und Stuttgarter im Ausland geboren sind? Dass über 40 Prozent der Kinder im Vorschulalter aus Einwandererfamilien stammen? Dass bei jeder zweiten Heirat wenigstens ein Partner Ausländer ist?
Dass Menschen aus rund 170 Nationen in der Stadt leben, die über 120 Sprachen sprechen? Und dass dieses in seinem Inneren kosmopolitisierte Stuttgart unter der Regie eines darauf stolzen CDU-Oberbürgermeisters auf vielfältige Weise transnationale Lebensformen über inner- und außereuropäische Grenzen hinweg praktiziert?
Wir alle sind Stuttgart. Aber wir wollen es nicht wahrnehmen. Warum?
Unsere Weltsicht ist essentialistisch bestimmt. Wir denken und handeln in klaren Kategorien von Grenzen und nationaler Staatsbürgerschaft: ein Land, ein Pass, eine nationale Identität – das ist die säkulare Version der Dreiheiligkeit. Aber genau das ist in der kosmopolitischen Konstellation falsch geworden.
Um die Wirklichkeit, in der wir leben, angemessen zu begreifen, benötigen wir einen kosmopolitischen Blick, der ins Zentrum stellt, wie Grenzen aufgehoben und durchlässig geworden sind, verschwimmen und zugleich neu befestigt oder errichtet werden. Wir benötigen einen kosmopolitischen Realismus – der nationale Blick ist rückwärtsgewandter Idealismus, der kosmopolitische Blick realistisch, weil er die Dialektik der Grenzen, die von ihr erzeugten Ängste und Chancen ins Zentrum stellt.



S. 216 f.) Totale Konformität und absolute Unterwerfung

"Auf pluralen Religionsmärkten gewinnen die Anbieter mit starker Marke. Aggressives God selling und das Angebot harter, streng bindender Religion sind insgesamt erfolgreicher als die konventionelle Vermarktung von Produkten hoher Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit. Am Beispiel der hochentwickelten Religionsmärkte der beiden Amerikas lässt sich jedenfalls zeigen, dass eine zunehmend größere Zahl von Konsumenten ganz harte Religionsprodukte bevorzugt. In den USA gehören die alten protestantischen main line churches zu den Verlierern. Gewinner sind dezidiert konservative Anbieter der 'religiösen Rechten'. Analoges lässt sich in verschiedenen lateinamerikanischen Gesellschaften beobachten, wo die römisch-katholische Kirche durch Konversion viele Mitglieder an charismatische Gruppen und Sekten verliert. Der große Erfolg solcher Sekten und überhaupt der vielen charismatisch-christlichen Bewegungen lässt sich wohl dadurch erklären, dass harte Religionen den Konsumenten sehr viel bieten: Indem sie hohes religiöses Engagement, dichte Vergemeinschaftung, strikt zu beachtende moralische Normen und erhebliche Finanzmittel fordern, erschließen sie den in ihnen vergemeinschafteten Menschen in pluralistischer Unübersichtlichkeit und verängstigender Unsicherheit eine starke, stabile Identität, krisenresistente Welt- und Zeitdeutung, geordnete Familienstrukturen und dichte Netzwerke der Solidarität. Im Himmel ihres autoritären Vatergottes herrschen die klaren Verhältnisse unumstößlich evidenter Wahrheit, die im Diesseits schon antizipiert werden." (F.W. Graf)

Woher kommt die Militanz der neuen Fraglosigkeit, die sich in der Wiederkehr der Götter zu Wort meldet?
Vom islamischen Fundamentalismus, dem amerikanischen Evangelismus bis zum Hindu-Nationalismus ist die Forderung nach totaler Konformität und absoluter Unterwerfung unter die jeweilige partikular-universale Variante der Gottesoffenbarung plötzlich "populär" (um nicht zu sagen "modern"). Die Zweifel werden gerade vor dem Hintergrund des "eigen" gewordenen Gottes mit dem Anspruch auf totalitäre Gottunmittelbarkeit – im "direkten Draht zu Gott" – unanzweifelbar zum Verstummen und Verschwinden gebracht.
Die religiösen Fundamentalisten gehen den Weg radikal zu Ende, den die Säkularisierung bereitet hat, indem sie die höchste Instanz der "objektiven Welt" in die "subjektive Welt" verlagert hat. Auf diese Weise wurde Gott aus der Natur verdrängt und der Mensch zum Maß aller Dinge erhoben. In der Perspektive wissenschaftlicher Rationalität kann es kein "natürliches Wissen" von Gott geben, und die Theologie als wissenschaftliche Begründungsinstanz des Glaubens muss aus dem Kreis der Wissenschaften ausgeschlossen werden. Religion reduziert sich letztlich auf blinden subjektiven Glauben, der nun von einem (mehr oder weniger reflexiven) Fundamentalismus in einer Umwertung der Werte zur totalitären Gottunmittelbarkeit der eigenen Glaubensgewissheit gewendet werden kann.



S. 218) Die offenbar nicht enden wollende Gegenreformation

Dies ist das widersprüchliche Doppelversprechen der Religionen in der globalisierten Welt: eine Ethik für eine Welt der Fremden anzubieten, die Brücken baut, zugleich aber neue Gräben und Abgründe aufreißt. Es ist der "massenmedial gefühlte" Zusammenhang zwischen neuer Religiosität und barbarischer Gewalt, der zur Wiederkehr der Götter in die Öffentlichkeitsarenen beigetragen hat.
Die massenmedial inszenierte Allpräsenz des religiös motivierten Terrorismus weckt die Erinnerung daran, wie die Geschichte des Kreuzes benutzt wurde, um jahrhundertelang Antisemitismus und Ketzerverfolgung in Gang zu setzen und zu legitimieren.
Auch heute geht die Wiederauferstehung des Glaubens mit einer öffentlichen Warnung des Gesundheitsministeriums einher: Religion kann töten!

In einer offenbar nicht enden wollenden Gegenreformation befasst sich die katho.Ki. bis auf den heutigen Tag – derzeit in Gestalt von Papst Benedikt XVI. – mehr mit der Aufrechterhaltung absolutistischer Wahrheitsansprüche als mit der christlichen Verpflichtung "Selig ist, wer Frieden stiftet!" gegenüber den Mitchristen der anderen Konfession. Der Papst fordert und fördert das christliche Europa. Also schließt er die "islamischen Brüder" aus. Gegen die "Diktatur des Relativismus" kämpfend, verteidigt er die katholische Hierarchie der Wahrheit, die einer Skat-Logik folgt: Glaube sticht Verstand.
Christlicher Glaube sticht alle anderen Glaubensarten (insbesondere den Islam). Römisch-katholischer Glaube ist der Kreuzbube, der alle anderen christlichen Skatbrüder des Glaubens sticht. Und der Papst ist der allerhöchste Trumpf im Wahrheitsskatblatt der katholischen Rechtgläubigkeit.

January 21, 2011

In Europa noch immer eine Einheit: Kirche & Staat



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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S. 190) Wahrnehmungsswitch raubt politikstiftende Gegensätzlichkeiten

Kosmopolitismus setzt die Dualismen und Antithesen, welche die Welt der religiös-ethnischen Gegensätze ausmachen, voraus.
Aber er vollzieht einen "Wahrnehmungsswitch", eine Umbewertung der Werte, und zwar in dreierlei Hinsicht:
# Er hebt die Antithese nicht auf, sondern bewertet sie positiv: Echte Vielfalt und Einheit, Integration, Homogenität bilden den kosmopolitischen Erwartungshorizont.
# Ziel ist nicht die Nivellierung von Unterschieden und Gegensätzen, vielmehr ihre Denaturalisierung, Denationalisierung und Depersonalisierung. Anders gesagt: An die Stelle des scheinbaren Realismus der Antithesen tritt der Realismus ihrer Vermischung.
# Diese Diagnose der Amalgamisierung und der dadurch entstehenden Individualisierung raubt den Antithesen ihre politikstiftende Funktion. Kosmopolitismus als Antithese der Antithesen deckt den verborgenen essentialistischen Hintergrund der Freund-Feind-Schematik des religiösen und nationalen Anderen auf, seine Bedeutung liegt gerade darin, die Gegensätze aus dem Wahnwitz der Freund-Feind-Schematik zu befreien.



S. 192) Von der Vererbung des Glaubens zum Religionskonsum

Die religious economics hat zur Voraussetzung, dass die konfessionelle Wahlfreiheit jedes Einzelnen sozial und politisch durchgesetzt ist. Entsprechend mussten die Kirche in den USA etwas lernen, das ihnen garnicht schmeckte. Insbesondere die katho.Ki. hatte große Schwierigkeiten damit, sich in eine Freiwilligenorganisation zu verwandeln, was den Umgang mit ihrer "Klientel" sowie das Verhältnis zu den großen Religionsgemeinschaften drastisch veränderte. Amerika ist in dieser Hinsicht eine Vorbildgesellschaft, in welcher das Urgrundrecht der freien Religionswahl zu einem Begründungsmythos des Staates wurde.
In Europa dagegen ist das Marktprinzip der individuellen Wahlfreiheit nur "halbiert" verwirklicht worden. Zum einen bilden die christlichen Kirchen und die europäischen Staaten immer noch eine Kooperationseinheit. Zum zweiten war zunächst die Konfessionswahl auf die christlichen Kirchen beschränkt, erst sehr spät konnten die Menschen sich auch für nichtchristliche Religionen entscheiden. Und in den letzten Jahrzehnten wurde das religiöse Wahlrecht zum ersten Mal als Recht verstanden, eine Religion anzubieten.
Neben die freie Religionswahl ist das freie, nicht an eine der etablierten Kirchen gebundene Angebot von Religionen getreten. Beides: das freie Angebot und die freie Wahlmöglichkeit zwischen diesen Angeboten, konstituieren den entfalteten Religionsmarkt.
In Europa vollzieht sich dadurch gegenwärtig der tiefgreifende Wandel von einer Kultur der religiösen "Vererbung" zu einer Kultur der freien Religionswahl und des Religionskonsums. So wird beispielsweise die "Konfirmation" von einem mehr oder weniger vorgegebenen Übergangsritus Jugendlicher in christlichen Familien zum Thema der persönlichen Wahl aller Altersgruppen. Die christlichen Kirchen passen sich in gewisser Weise auf diesem Weg ihren nichtetablierten Gegenspielern an. Freiwilligkeit (Markt) beginnt sich, unabhängig von den konstitutionellen Normen und Organisationsformen der Kirche, durchzusetzen.



S. 193 f.) Lebensgestaltung im Bewusstsein des religiös Anderen

Unter "Pluralisierung" verstehe ich die Koexistenz verschiedener, sich häufig widersprechender Weltperspektiven und Wertsysteme in einem Raum direkter Interaktion. "Kosmopolitisierung" ist ein Spezialfall von Pluralisierung, der dann vorliegt, wenn alte und neue globale Religionen und Religionsbewegungen sich grenzübergreifend auf ganz verschiedene Kontexte beziehen, in ihnen traditional oder neu lebendig sind, miteinander konkurrieren, interagieren, um Vorrechte streiten oder gegenseitig die Legalität oder Legitimität bestreiten.
Kosmopolitisierung meint also die Art, wie sich der Makrokosmos der Weltreligionen im Mikrokosmos des Nationalen und Kommunalen bricht, spiegelt. In diesem Sinne treibt Modernisierung zwar nicht Säkularisierung, wohl aber einen konfliktvollen Prozess der inneren Kosmopolitisierung von Religionsvielfalt in verschiedenen nationalstaatlichen Kontexten hervor (nicht zwangsläufig, jedoch angesichts der neuen, globalen Kommunikationsmedien mindestens in den deterritorialisierten Kommunikationsräumen des Internets selbst durch entschiedene religiöse und staatliche Abgrenzungsstrategien schwer aufhaltbar.) Der religiöse Andere ist gegenwärtig im Bewusstsein fast aller Menschen: nicht notwendig – das ist wichtig – als Feind, vielmehr als Alternative, eine Alternative nicht nur des Religiösen, sondern der Art und Weise, die Welt und das Leben aufzufassen und zu gestalten.


Christliche Atheisten


Die Marktlogik verflüssigt nicht nur die nationalen Grenzen und stellt damit – beispielsweise in Dtl. – die Konfessionsmonopole der evangelischen und katholischen Kirche in Frage. Die transkirchliche, transnationale Erweiterung der Glaubensangebotspalette löst Schockerfahrungen in der Gesellschaft (und damit Abwehrreaktionen) aus, weil selbst aus den christlichen Kirchen ausgetretene Atheisten immer noch christliche Atheisten sind. Zugleich bricht die Marktlogik mit der Konversionslogik. *)
Man muss nicht aus der eigenen Kirche oder Religionsgemeinschaft austreten, um religiöse Dienstleistungen für besondere Gelegenheiten, Lebenskrisen usw. zu konsumieren. Marktmodell heißt: An die Stelle des vom Kirchenmonopol vorgegebenen Entweder-Oder tritt das Sowohl-als-Auch. Die religiösen Angebote werden wie andere Angebote auf dem Markt ausgewählt, ausprobiert, gewechselt und gemischt. Womit Europa augenblicklich hadert, ist, markttheoretisch gesprochen, die Angebotsfreiheit des Islam – welche Wirkung diese Freiheit haben wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer prognostizierbar. Einiges spricht dafür, dass die europäischen Gesellschaften ihr Verständnis des Religion-Staat-Verhältnisses grundlegend überdenken, etwa durch eine "Entstaatlichung" der Religionsfreiheit. Nicht alle Muslime sind radikale Muslime, aber Muslime, die sich als europäische Muslime in den einzelnen Ländern verstehen und sich organisieren wollen, können nicht zu einer "organisatorischen Assimilation" nach dem Vorbild der europäischen Nationalkirchen gezwungen werden. Der Kampf um die Seele des europäischen Islam ist insofern ein Streit um die Durchsetzung des Marktfreiheitsprinzips für Religionen in Europa.

*) siehe Steve Bruce, Hartmut Zinser ("Der verkaufte Gott" 2006),
Robert Laurence Moore ("Selling God. American Religion in the Marketplace of Culture" 1994)



S. 194 f.) Das Feuer der Religion löschen

Wenn es richtig ist, dass die Weltgeschichte der Religionen die Geschichte von Irren ist, die sich aktuell oder potentiell wechselseitig an die Gurgel springen, dann wirkt die Marktlogik essentiell pazifierend. Der Markt ermöglicht und erneuert möglicherweise sogar den missionarischen Imperialismus, jedoch nicht in Form militärischer Eroberungen, sondern marktstrategisch. [...] Es entsteht eine Art "religiöser Imperialismus des Handelsgeistes", den diejenigen, die die religiösen Dienstleistungen und esoterischen oder New-Age-Angebote nachfragen, durch ihren Kauf- und Konsumakt bejahen. [...]
Was folgt daraus? Das Feuer der Religion könnte mit der Warenform Gottes gelöscht werden. Unverkennbar ist allerdings die Gefahr, dass mit dem Feuer die Religion selbst ausgelöscht wird. Möglicherweise haben diejenigen, die das Hohelied des Marktes in religiösen Dingen singen, recht, wenn sie der potentiell oder aktuell gewalttätigen religiösen Rechthaberei diese Rosskur verschreiben. Dieses Gegengift darf in der großen Hausapotheke der Menschheit nicht fehlen. Aber zwischen den Extremen – Religion tötet oder Markt tötet Religion – muss es (wieder einmal) einen dritten Weg geben, nach dem nun weiter gefahndet werden soll.



S. 196 f.) Habermas' Revitalisierung der Weltreligionen

"Wie gerade das Beispiel der USA zeigt, ist der moderne Verfassungsstaat auch erfunden worden, um einen friedlichen religiösen Pluralismus zu ermöglichen. Erst die weltanschaulich neutrale Ausübung einer rechtsstaatlich verfassten säkularen Herrschaftsgewalt kann das gleichberechtigte und tolerante Zusammenleben verschiedener, in der Substanz ihrer Weltanschauungen oder Doktrinen nach wie vor unversöhnter Glaubensgemeinschaften gewährleisten. Die Säkularisierung der Staatsgewalt und die positive wie negative Freiheit der Religionsausübung sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie haben die Religionsgemeinschaften nicht nur vor den destruktiven Folgen der blutigen Konflikte untereinander, sondern auch vor der religionsfeindlichen Gesinnung einer säkularistischen Gesellschaft geschützt. Der Verfassungsstaat kann freilich nur dann seine religiösen wie seine nichtreligiösen Bürger voreinander in Schutz nehmen, wenn diese im staatsbürgerlichen Umgang miteinander nicht nur einen modus vivendi finden, sondern aus Überzeugung in einer demokratischen Ordnung zusammenleben. Der demokratische Staat zehrt von einer rechtlich nicht erzwingbaren Solidarität von Staatsbürgern, die sich gegenseitig als freie und gleiche Mitglieder ihres politischen Gemeinwesens achten." (Jürgen Habermas 2005: "Zwischen Naturalismus und Religion", "Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion" 2005 mit Benedetto Ratzinger im Herder-Verlag SJ, 2007, unveröffentliches Manuskript: "Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne?"
Habermas fordert als konfliktregulierende Antwort auf die sich ausschließenden Absolutheitsansprüche religiöser Wahrheiten nicht weniger als die Zivilität des Verhaltens über religiöse Gräben hinweg. Alle haben den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus nicht nur als kleineres Übel hinzunehmen, sondern zu bejahen. Folglich darf man religiösen Stimmen in der Öffentlichkeit nicht von vornherein jeden "rationalen" Gehalt absprechen. Habermas verteidigt Hegel These, "dass die großen Religionen zur Geschichte der Vernunft selbst gehören."



S. 197 f.) Die säkulare Gesellschaft muss post-säkular werden

Für alle Konfliktpartner heißt das: Sie müssen einen tiefen historischen Lernprozess und Mentalitätswandel vollziehen. Die säkulare Gesellschaft muss post-säkular werden, d.h. skeptisch und offen für die Stimmen der Religionen. Die Zulassung der religiösen Sprache in der Öffentlichkeit sollte als Bereicherung, nicht als Verletzung gelten. Dieser Wandel ist nicht weniger anspruchsvoll als die allreligiöse Tolerierung des säkularen Nihilismus.


Dt. Dilemma unvollendete Säkularisierung


[...] Muslimische Religionsgemeinschaften nehmen das in der Verfassung festgeschriebene Recht der Religionsfreiheit ernst und fordern von den Katholiken und Protestanten, die sich das christliche Dtl. unbrüderlich teilen, auf die Unterstützung des "religiös-neutralen" Staates und seiner demokratischen Organe hoffend, den Islam rechtlich gleichzustellen. Damit gerät das System der semistaatlichen, dual-christlichen Religionsorganisation in Dtl. in ein Dilemma. Entweder wird die unvollendete Säkularisierung beibehalten oder die Säkularisierung vorangetrieben. Im letzteren Fall sind die nicht wenigen Privilegien der christlichen Kirchen abzuschaffen – vom Religionsunterricht an den Schulen über die Kirchensteuer bis hin zu den im Rundfunkrat für Kirchenvertreter reservierten Sitzen. Diese konsequente Trennung von Staat und Religion, wie sie in Frankreich üblich ist und von Habermas theoretisch modelliert wird, wäre sicherlich die sauberste Lösung. Schließlich sind auch Nicht-Christen Bürger, die ein Recht auf Freiheit von Religion haben.



S. 199 f.) Habermas' Neue Weltordnung, Habermas' Weltbürgerrecht

Nein, Habermas geht noch einen Schritt weiter. Auf der Suche nach einem globalisierten Verfassungspatriotismus entkoppelt er die universalistische Idee der Verfassung von ihrer nationalstaatlichen Konkretisierung. So betrachtet, findet er empirisch entstaatlichte Verfassungen in vielfältigen Formen, z.B. Wirtschaftsverfassungen, die Verfassung der EU, der UNO, der WTO, der Weltgesundheitsorganisation usw. Damit ist der Weg frei für die Idee einer politischen Verfassung für die multireligiöse Weltgesellschaft. D.h. für "eine Projektion jener 'bürgerlichen Verfassung', die zu Kants Zeit aus der amerikanischen und Französischen Revolution soeben entsprungen war, von der Ebene des Nationalstaates auf die globale Ebene. Damit ist der Begriff einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts geboren. Die großartige Innovation dieser den Verhältnissen weit vorauseilenden Begriffsbildung besteht in der Konsequenz der Umformung des internationalen Rechts, als eines Rechts der Staaten, in ein Weltbürgerrecht als ein Recht der Individuen. Diese genießen dann nicht mehr nur als Bürger eines Nationalstaates, sondern ebenso als Mitglieder einer politisch verfassten Weltgesellschaft den Status von Rechtssubjekten." (Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 326)
Diese programmatische Entkoppelung von Staat und Verfassung hat allerdings eine Konsequenz: Es handelt sich – so Habermas – um eine Verfassung der Weltgesellschaft ohne Weltrepublik, ohne Weltregierung und damit ohne weltstaatliche Erzwingungsmittel. Daraus geht für die religiös mobilisierte Weltgesellschaft das historisch Neue hervor: Da die Zivilisierung der Weltreligionskonflikte nicht mehr an die Erzwingungsmacht der Staaten (Erste Moderne) delegiert werden kann, muss diese Zivilisierung als Selbstzivilisierung den Weltreligionen zugemutet werden (Zweite Moderne). D.h. einerseits treffen in der kosmopolitischen Konstellation die wechselseitigen Dämonisierungen der Anders- und Nichtgläubigen direkt und ungebremst aufeinander, andererseits versagen die staatlichen Mittel der erzwungenen Toleranz, wie sie den Westfälischen Frieden überhaupt erst möglich gemacht haben. Denn zum Westfälischen Frieden kam es ja nicht, weil die Konfessionen aufgrund innerer Friedfertigkeit zur gegenseitigen Anerkennung bereit und entschlossen waren. Vielmehr waren es die politischen Mächte leid, sich mit einer der Konfessionen zu identifizieren und deren Konflikte mit Waffengewalt zu entscheiden. Sie waren es, die mit der Trennung von Religion und Staat einen Waffenstillstand der nicht friedensfähigen Konfessionen herbeiführten. Eben das entfällt in der Weltgesellschaft ohne Weltregierung.

Auch Wissenschaft entpuppt sich als Interpretation



Ulrich Beck: Der eigene Gott

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01/17'11 evangelisch.de) Trend zur Patchwork-Religion wächst

S. 168) Internetseiten

In veränderter subjektiver Form kehrt die Gründerzeit der großen Weltreligionen zurück, in denen die "Großen Religionserzählungen" der Menschheit sich miteinander verflochten und missionarisch ausbuchstabiert wurden – im Mittleren Osten, in Indien, in China und in Europa. Insofern kann man sagen: Der religiöse, kosmopolitische Geist der Weltgesellschaft ist – anders als der Geist des Kapitalismus – von Anfang an Teil der Religionen. "Globalisierung" der Religionen stellt historisch nichts Neues dar, es bildet vielmehr ein Definitionsmerkmal von Religion. (Graf, Wiederkehr der Götter, S. 71 ff.) Ein Beispiel für die neuen Formen von Religionen bieten die religiösen Internetseiten. Hier findet sich ein kaum übersehbarer Bazar der Sinnangebote, den die Individuen durchstreifen und von denen sie sich nehmen, was ihnen gefällt.


S. 172) Gleicher Relativismus stellt Gleichberechtigung von Wissens her

Die postmoderne Religiosität stellt die Moderne in Frage, ohne zu den Ursprüngen fundamentalistischer Religiosität zurückkehren zu wollen. Die religiöse Postmoderne bricht mit mindestens einem Grundprinzip der säkularen, ersten Moderne: mit der hierarchischen Ordnung von wissenschaftlichem Wissen und religiösem Glauben, also damit, dass die moderne Wissenschaft die einzige Form des objektiven Wissens über die Welt ist.
Die postmoderne Welt beginnt dort, wo das religiöse Wissen wie das wissenschaftliche Wissen ihre Unschuld verloren haben und diese Gleichheit des Relativismus eine neue Gleichberechtigung des religiösen mit dem wissenschaftlichen Wissen (bzw. Glauben) herstellt. Auch wissenschaftliches Wissen entpuppt sich aufgrund seiner fortschreitenden Selbstentzauberung als eine imaginäre Interpretation der Welt, die auf Glauben (Glauben in die Entzifferbarkeit der Welt) beruht und keine finale Wahrheit über die Realität an sich zu liefern imstande ist.
Darüber wird zwar zwischen verschiedenen Wissenschaften und Wissenschaftsphilosophien gestritten, aber allein die Umstrittenheit beweist oder erweist die postmoderne Koexistenz relativen (wissenschaftlichen) Wissens und (religiösen) Glaubens.

Diese neue Gleichheit des Wissens- und Glaubensrelativismus erzwingt, so scheint es auf den ersten Blick, einen radikalen kulturellen und ethischen Relativismus. Die Postmodernisten feiern diesen absoluten Relativismus, weil sie in ihm das Ende der Totalitarismen sehen, die mehr oder weniger zwangsläufig zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige führen und diese rechtfertigen.
Selbst wenn keine Gewalt droht, tötet der Anspruch auf absolute Wahrheit das Gespräch mit Anderen. Wahrheit, die ein für allemal gilt – sei sie wissenschaftlichen, sei sie religiösen Ursprungs und Anspruchs – begünstigt die Unmenschlichkeit in allen zwischenmenschlichen Bezügen.
Auf der anderen Seite scheint genau diese "Diktatur des Relativismus" den Weg in die menschheitliche Katastrophe schlechthin zu weisen. Denn sie zwingt dazu, die klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Wir und die Anderen aufzulösen und die Menschheit angesichts zivilisatorisch erzeugter Gefahren orientierungslos sich selbst zu überlassen.



S. 179 ff.) Hinter den Fassaden der religiösen Großetikette

Diese subjektiven Suchbewegungen und Kompositionen individualreligiöser Erzählungen brechen selbstbewusst (und zwar aufgrund religiöser Überzeugungen und Erfahrungen) mit dem Reinheitsideal der klerikalen Hüter institutionalisierter "Volkskirchen-Wahrheiten". Verblüffend ist, dass diejenigen, die so frei sind, sich auch diese Freiheit der Religion zu nehmen, sich weiterhin als "Christen" bezeichnen.
Welches sind die Nebenfolgen dieser Deregulierung der organisierten Systeme religiösen Glaubens?
Ist die Individualisierung Gottes ein Gegengift gegen jenen vielbeschworenen Zusammenprall der Religionen und Zivilisationen, allein schon deshalb, weil Religionen dann in der bekannten Form nicht mehr existieren?
Mit der Macht, die die Individualisierung des Glaubens im religiösen Leben und Erleben der Welt gewinnt, wird das für das weltgesellschaftliche Zusammenleben äußerst folgen-, ja gefahrenreiche Ideal der Reinheit der religiösen Identitäten relativiert oder sogar ersetzt durch das Ideal von Unreinheit.
Die selbstbewusste Anarchie der religiösen Zugehörigkeiten, die sich teilweise hinter den Fassaden der religiösen Großetikette (Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten etc.) vollzieht, entschärft strukturell (also nicht intentional, sondern als Nebenfolge) das Gewaltpotential religiöser Wahrheitswidersprüche und ist damit ein wichtiger Schritt in Richtung auf ein kosmopolitisches Miteinander der alten und neuen globalen Religionen.
Denn die "Unreinheit" des Glaubens schließt die Religiosität der Anderen ein und wird zur Quelle individualisierter Gotterfahrung.


"Ketzerei" des religiösen "Mischmaschs" könnte zur "Pflicht" werden

"Die meisten Menschen sind andere Menschen," sagt Oscar Wilde.
"Ihre Gedanken, ihr eigenes Leben eine einzige Nachahmung, ihre Leidenschaften ein Zitat."

Wenn Religionsfreiheit so radikalisiert und praktiziert wird, dass die Individuen tatsächlich ohne Zwang kommunizieren können, persönliche "Glaubenslösungen" und so (zu Ende gedacht) eine innere weltreligiöse Multireligiosität im eigenen Leben und Glauben entsteht, dann relativieren sich die weltreligiösen Konfliktfronten in dem Maße, in dem die Individualisierung des Glaubens sich über alle Grenzen hinweg ausbreitet und an Macht gewinnt. Es ist die "Ketzerei" eines religiösen "Mischmaschs", die – als ungesehene Nebenfolge – das Prinzip der Gewaltfreiheit im Umgang der Religionen miteinander verbürgen könnte.
Auf der individualisierten Pluralität religiöser und anderer Identitäten und Bindungen beruht die Utopie des Gewaltverzichts in den weltgesellschaftlichen Beziehungen. Im Gefolge der erfahrenen und reflektierten weltreligiösen Verflechtung, die den Erzählungen vom Glauben an den "eigenen Gott" eingewoben sind, wird die Religion der Anderen nicht mehr nur "toleriert" (also als indifferent oder als zwar unerfreulich, aber unvermeidlich angesehen), sie gilt vielmehr als Bereicherung des eigenen religiösen Erlebens. Daraus könnte sich eine paradoxe, auf Eigennutz gründende "Pflicht" entwickeln, gemäß der Devise: Die Freiheit der Religion ist die Freiheit der Andersgläubigen. Das Ausruhen auf dem Wahrheitsmonopol der institutionalisierten Religionen, die Ausgrenzung der Andersgläubigen würde dann ethisch geächtet.
Das reduktionistische Reinheitsdiktat geht in der Regel mit vernebelnden Sichtweisen der Weltgeschichte einher. Übersehen wird die transreligiöse Verflechtungsgeschichte.
Eine solche Geschichte kennt keine harmonistischen Dialogkonzepte. [...]
Vielleicht muss man, wie Gottfried Herder schon im 19. Jh. vorschlug, den Einfluss des Islam auf Europa infolge der Eroberung Spaniens tatsächlich als die "erste Aufklärung" bezeichnen.
Von einer "ursprünglichen Reinheit" der Weltreligionen kann überhaupt keine Rede sein, weil "der" Islam an vielen Orten mit "dem" christlichen Westen und "der" jüdischen Welt aufs Engste verflochten war.



S. 184 f.) Politische Nächstenliebe

Die Individualisierung des Glaubens bricht schließlich mit der selten angezweifelten Gleichsetzung von Religiosität und Moralität. Nahezu alle politischen Positionen gehen davon aus, die Motivations- und Legitimationsressourcen der institutionalisierten Religionen böten den Bezugspunkt des moralischen Verhaltens.
Nicht selten trifft man selbst im säkularen Europa neuerdings auf die Vorstellung, ohne den institutionalisierten Glauben an Gott könnte niemand garantieren, dass die Menschen sich moralisch verhielten. Die politische Rhetorik verkündet dann, dass es die "jüdisch-christlichen Werte" [...] sind, die "Europa" oder den "Westen" kennzeichnen, womit oft die Haltung einhergeht, ohne diese Wertprinzipien gebe es keinen Grund, gerechte Gesetze zu erlassen, die eine humane und gerechte Ordnung stiften.
[...] Die Verfechter der religiösen Definitionen neigen dazu, Moralität den Dogmen der Religion unterzuordnen und sie dadurch von der Lebensrealität leidender Menschen abzuschneiden.
Einen solchen Gegensatz von Religion und Moral kann man beispielsweise im Überfluss und zum Überdruss in Afrika beobachten. Allein in den Ländern südlich der Sahara rafft die Aids-Epidemie jedes Jahr mehrere Millionen Menschen dahin. Dennoch erfüllen die dort agierenden kirchlichen Amtsträger ihre "Pflicht" und predigen selbst in Gemeinden, in denen die Aids-Flut steigt, dass der Gebrauch von Kondomen eine schwere Sünde sei. Und dies geschieht aus "christlicher Nächstenliebe", und obwohl sie wissen, welche entsetzlichen Leiden daraus folgen. Und: Sie sind die einzigen, die die Bedeutung von Kondomen den Menschen erläutern könnten.
[...] Er oder sie setzt Glauben mit Religion gleich und exekutiert als religiöser Konformist ohne individuelle Verantwortung die moralischen Dogmen der Kirche. Diese ohne individuellen Gott stattfindende Aktion kann im Grenzfall Urteil und Empfinden eines Menschen abtöten. Und umgekehrt gilt: Ein guter Mensch tut weniger gute Taten, als er dies täte, wenn er seinem Gewissen und nicht der verinnerlichten Kontrolle des kirchlichen Gottes gehorchte.
[...] Dann jedoch stößt man auf in religiösen Überlieferungen kodifizierte Forderungen Gottes, die einen schaudern machen: "Wenn ein Mann entdeckt, dass seine Braut keine Jungfrau mehr ist, dann muss er sie zu Tode steinigen." Mit Entsetzen liest dies derjenige in der "Heiligen Schrift", dessen religiöse Erfahrung und moralisches Urteil in der subjektiven Erzählung vom eigenen Gott wurzelt.
Auf der anderen Seite gilt: Der islamische Terrorismus ignoriert alle Gewaltverbote des Koran.



S. 186 f.) In der postsäkularen Welt

Die Trennung von Staat und Kirche ist schon lange vollzogen, in Frankreich seit mehr als 200 Jahren. Die Frage, wie in der postsäkularen Welt die individualisierte Religiosität ihre rebellische, öffentliche Stimme gewinnen kann, verweist auf die radikale Ambivalenz des religiösen Moralabsolutismus, wie er auf der einen Seite von Civil Disobedience – so lautet der Titel des weltberühmten Essays von Henry D. Thoreau – weltpolitisch wirkungsvoll wurde, auf der anderen Seite sich jedoch in der weltmachtstrategischen Terrordrohung des Islamismus artikulierte.
Thoreau gehört zum engen Kreis der uramerikanischen Amerika-Kritiker. Ein bemerkenswertes Faktum ist, dass der heute grassierende Antiamerikanismus in seinen radikalsten Ausdrucksformen Teil des "amerikanischen Traums" ist. Thoreau war dem (mit dem dt. philosophischen Idealismus eines Kant und Fichte verwandten) Neuengland-Transzendentalismus des amerikanischen Sokrates, Emerson, gefolgt.
Da Politik und Gesellschaft in seinen Augen versagten, boten Selbstsuche und Selbstreform den einzigen Ausweg. Die Welt der Politik war für ihn fast nicht mehr existent. Sie erschien als unwirklich, unglaubwürdig und bedeutungslos.
Doch dem Rückzug auf die "Selbstreform" war der Weg abgeschnitten, weil sich in der Selbstsuche die moralischen Maßstäbe schärfen, und der Staat selbst den Bürger, der sich in die Festung seines Selbst zurückzog, zum Komplizen des "zum Himmel schreienden Unrechts der Sklaverei" machte. In dieser Situation, davon wollte Thoreau die Amerikaner überzeugen, hatte ein Staatsbürger nicht nur das Recht, sondern sogar die moralische Pflicht, dem Staat den Gehorsam zu verweigern:

"Wie soll sich ein Mensch heutzutage gegenüber dieser amerikanischen Regierung verhalten?
Ich antworte darauf, dass er sich nicht ohne Schande mit ihr einlassen kann.
Nicht für einen Augenblick kann ich die politische Organisation als meine Regierung anerkennen, die zugleich auch die Regierung der Sklaven ist."

(Auch der Diskurs der Islamisten ist sozialrevolutionär, auf "Gerechtigkeit", ausgerichtet.)
Die Sklaverei war damals legal und entsprach dem Willen der Mehrheit der Amerikaner.
Die "Resistence to Civil Government" musste also die Legitimität in Zweifel ziehen. Thoreau konnte sich dabei weder auf die Zustimmung der Bürger noch auf eine einflussreiche politische Partei, noch auf die Autorität der Kirchenführer berufen, hatten diese doch die Sklaverei gutgeheißen oder stillschweigend geduldet.
Die Legitimität, auf der seine öffentliche Anklage beruht, war die Religion: die Rechtfertigung der amerikanischen Regierung vor Gott. Weil die Sklaverei nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden konnte, musste Thoreau sie in einen Widerspruch zu einem Gesetz stellen, das über dem "höchsten Gesetz des Landes" stand, nämlich dem göttlichen Gebot. Wer der inneren Stimme dieses absoluten "höheren Gesetzes" folgte, für den galt:

"Derjenige, welcher nach dem höchsten Gesetz lebt, steht in gewissem Sinne über dem Gesetz."

(Das predigt auch der Islamismus.) ["Die Gemeinschaft steht über allem. Das feindlich gesinnte Element ist ausfindig zu machen und zu bekämpfen. Mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. So steht es in den Statuten."]
Für Thoreau selbst war die Sachlage sonnenklar: Wer nicht zum moralischen Mittäter des Sklavenstaates werden wollte, musste öffentlich handeln, ohne in den Kreislauf von Gewalt und (öffentlicher) Gegengewalt zu geraten.
Er musste den Weg der friedlichen Revolte wählen, die den Nerv des staatlichen Machtanspruchs trifft, er musste zivilen Ungehorsam leisten, das heißt: die Steuern verweigern.
Thoreau sah sich mit allen Vorwürfen konfrontiert, die auch heute gegen die "Selbstherrlichkeit" eines zivilen Widerstandsaktes vorgebracht werden:
In einer Demokratie sei solcher Widerstand überflüssig, ja, er verachte den demokratischen Mehrheitswillen und übe eine Diktatur der abweichenden Meinung aus.



S. 188) Der rechte Platz

Entscheidend ist, die Macht der religiös begründeten absoluten Moral im öffentlichen Raum zur Geltung zu bringen. Die Stärke des Staates beruht nämlich letztlich nicht auf seinem Gewaltmonopol, sondern auf der "freiwilligen Knechtschaft" der Bürger. Es ist das Selbst-Gefängnis des vorwegeilenden Einverständnisses mit der staatlichen Machtordnung, die den Staat ermächtigt. [...]

"Der rechte Platz, ja, der einzige Platz, den Massachusetts heutzutage für seine freieren und weniger verzagten Geister vorgesehen hat, sind seine Gefängnisse, wo sie vom Staate selbst ausgeschlossen und ausgesetzt werden, da sie sich schon selbst durch ihre Grundsätze ausgeschlossen haben."

Civil Disobedience wurde zum Vorbild für die Rückkehr der durch die Individualisierung des Glaubens moralisch gestärkten religiösen Stimme und Tat in den öffentlichen Raum. Die Wirkungsgeschichte ist überwältigend.



S. 189) Besonders Fromme sind bereit zur Gewalt

Wie die Religionen selbst hat auch die Individualisierung ihr Doppelgesicht: Man kann mit ihr Gewaltfreiheit und Gewaltaktionen begründen. Wenn man die Mittelwahl, also die Entscheidung für gewaltfreien Widerstand, ausklammert, sticht die Strukturanalogie der Position von Thoreau und bin Laden ins Auge.
Die Unterscheidung zwischen "nur" demokratisch legitimierten Gesetzen und einer in der Gottunmittelbarkeit begründet liegenden Hypermoral, die den einzelnen zum Widerstand ermächtigt, stärkt bei Akteuren einmal die Bereitschaft zum zivilen Widerstand, führt ein anderes Mal dazu, das eigene Leben zu opfern und wahllos Mitmenschen "auf Befehl Gottes" mit in den Tod zu reißen.
Das Fazit lautet: Auch die Individualisierung des Glaubens kann nicht durch die Macht der ungesehenen und ungewollten Nebenfolge die Zivilisierung der Weltreligionskonflikte einleiten, schon garnicht garantieren.

"Wenn auf vielen Religionsfeldern eine zunehmend größere Zahl von Akteuren rhetorischen Eskalationsstrategien folgt, ist die Radikalisierung symbolischer Konflikte unausweichlich. Im Pantheon des frühen 21. Jh.s sind liberale Konsensgötter in die Minderheit geraten. Viele ekstatisch wilde, machtbesessene Götter werden in den pluralen Religionsfeldern der Zukunft neue dramatische Kämpfe inszenieren, und die religiöse Gewaltbereitschaft wird besonders Frommen als wahrer Gottesdienst erscheinen." (Graf, Wiederkehr der Götter, S. 66)

January 19, 2011

John Murray SJ: Intoleranz, wenn irgend möglich



Ulrich Beck: Der eigene Gott

pt 1 & pt 2 & pt 3 & pt 4 & pt 5 & pt 8 & pt 9 & pt 10


S. 136) Das Undenkbare

Die "Erfindung" des eigenen Gottes bildet vielleicht das Herzstück der Revolution Luthers. Er ist es, dem das "Undenkbare", "Ungeheuerliche", die "Häresie" gelingt, durch die Konstruktion der Gottunmittelbarkeit des Individuums in der Verbindung von dem "einen" und dem "eigenen" Gott die subjektive Glaubensfreiheit gegen die kirchliche Orthodoxie zu begründen. Wenn am Beginn des 21. Jh.s der "eigene Gott" aus den Kirchen auswandert, ist diese zweite, globale Reformation der Neuen Religiösen Bewegungen ein spätes Echo auf Luthers widerspruchsvolle Figur des zugleich eigenen und einzigen Gottes.


S. 141) Im Grunde rational-systematisch

Luther variiert an entscheidender Stelle das traditionell-katholische Beichtmuster, das bereits eine für diese Änderung empfängliche Struktur enthält. Diese "Reformation der Beichte" liegt in der Konsequenz der Individualisierung Gottes. In der klassischen Beichte tritt die katholische Kirche, die sich selbst als "geheiligte Institution" und "Sakrament" versteht, dem einzelnen Glaubenden in der Figur des Priesters entgegen.
Genau dies verwirft Luther: Beten und beichten sind Formen der Gottunmittelbarkeit und damit Dialogformen mit dem "eigenen Gott":

"Er, der zeit seines Lebens die Beichte beibehält und verteidigt, radikalisiert sie zugleich und schafft sie in ihrer ritualisierten, distanz-schützenden Qualität für den späteren protestantischen Einflussbereich ganz ab. Auch die 'katholische' Beichte bleibt von dieser Veränderung nicht verschont." (Hans-Georg Soeffner 1992: "Luther" S. 42)

"Der 'Kirche' als sakraler Institution sind damit aus protestantischer Sicht nicht nur Legitimation und Macht entzogen, sondern auch – was entscheidender ist: ihr Einfluss auf die alltägliche Lebenspraxis, in die sie vorher seelsorgerisch schützend und beratend einbezogen war. Die protestantische Gemeinde, in der einerseits jeder einzelne sein einzigartiges Verhältnis zu Gott ausbildet und in der andererseits die Gemeinschaft als ganze die Tendenz zur wechselseitigen Kontrolle des einzelnen Gemeindemitglieds aufweist, ist etwas ganz anderes als der rituelle und ritualisierte, institutionell durchorganisierte, traditionale Gemeinschaftsverband der katholischen Kirche und ihrer im Grunde 'rational-systematischen Form' (Max Weber) der Seelsorge." (ebd. S. 45)


S. 143 ff.) "Abweichungen im christlichen Glauben, Verstöße gegen die kirchliche Dogmatik sind weit mehr als persönliche Sünde, sie sind eine Bedrohung der Gesellschaft insgesamt."

Martin Luther und John Calvin, die gegen den "institutionalisierten Irrglauben" der katho.Ki. rebellierten, waren, was die blutige Intoleranz betraf, mindestens so katholisch wie die Katholiken.
[...] "Toleranz" kommt vom lateinischen Verb "tolerare", was soviel wie "ertragen" meint.
Daraus geht zunächst hervor, dass das große Wort der Toleranz eher auf erzwungene Hinnahme als auf überzeugte Anerkennung der Freiheit und Andersheit der Anderen beruht. Auch setzt Toleranz die Möglichkeit voraus, diese zu entziehen, also einen Herrscher, der zugesteht, aber seine Großmut jederzeit widerrufen kann.
[...] Thomas Aquinas, ein Dominikaner und einer der führenden mittelalterlichen Philosophen und Theologen, rechtfertigte diese Praxis. Die Frage, ob Häretiker toleriert werden sollten, beantwortet er mit einem entschiedenen Nein. Denn "sie verdienen nicht nur durch Exkommunikation von der Kirche, sondern durch Tod von der Welt ausgeschlossen zu werden." Er begründet dies durch einen Vergleich. Ist es nicht, fragt er, ein sehr viel schwerwiegenderes Verbrechen, den Glauben zu korrumpieren, der die Seele verlebendigt, als beispielsweise Geld zu stehlen, wodurch doch nur sowieso endliches Leben verletzt wird.
Wenn also, folgert er, Diebe oder andere Verbrecher mit dem Tode bestraft und durch säkulare Herrscher hingerichtet werden, mit wie viel mehr Anspruch auf Gerechtigkeit können Häretiker nicht nur exkommuniziert, sondern vom Leben zum Tode gebracht werden? Abweichungen im christlichen Glauben, Verstöße gegen die kirchliche Dogmatik sind weit mehr als persönliche Sünde, sie sind eine Bedrohung der Gesellschaft insgesamt.
(vgl. Perez Zagorin 2004: "How the Idea of Religious Toleration Came to the West" S. 43)


In Komplizenschaft mit der päpstlichen Inquisition: Calvin


Einer der ersten Mutigen, der diese in der katho. Inquisition und der säkularen Exekution gründenden Basisinstitution der christlichen Intoleranz unter Berufung auf das Basisprinzip der christlichen Brüderlichkeit und Nächstenliebe grundsätzlich kritisierte, war Sebastian Castellio in seinem Buch "De haeretics" (1554), einem Leuchtturm im Kampf für religiöse Freiheit und Toleranz. Er kannte und kooperierte eine Zeitlang mit dem Reformer Calvin, bis er dessen entscheidende Rolle bei der ersten Exekution eines protestantischen Ketzers – Michael Servetus – in Lyon am 27. Oktober 1553 aufs Schärfste verurteilte. Für den Gipfel des Skandals hielt er die Tatsache, dass in Genf ein Protestant, nämlich Calvin, in Komplizenschaft mit der päpstlichen Inquisition einen Protestanten öffentlich verbrennen lässt, wodurch er die christliche Religion und die wahre Frömmigkeit und Liebe des Nächsten verrät. (siehe Zagorin ebd.)



S. 148) Paradoxe Kollektivität der Christus-Frömmigkeit

Der amerikanische Jesuit und Philosoph John C. Murray bringt die Haltung der katho.Ki. zur Religionsfreiheit auf die Formel:

"Intoleranz, wenn irgend möglich, Toleranz, wenn unbedingt nötig."

Dennoch gilt: Die christliche Moral hat die individualistische Moral zum Basisprinzip erhoben, und es ist unmöglich, dieses Prinzip aufzugeben, ohne dass das Christentum sich selbst aufgibt. Man prangere also nicht den Individualismus als Feind des Christentums an. Man bekämpft ihn nur, um ihn zu bestärken.
Geklärt werden muss, welches das richtige Maß und die richtige Art der paradoxen Kollektivität des christlich geprägten, kirchlich institutionalisierten Individualisierungsprozesses.



S. 152) Christentum gleichsam in den Grundrechten verschwunden

Institutionalisierte Individualisierung bezieht sich auf zwei Kontexte, die sich in ihrer Geltung historisch ablösen, möglicherweise auch überlagern, verstärken: die christliche und die wohlfahrtsstaatlich institutionalisierte Individualisierung. Es gibt also zwei historisch verschiedene, aber durchaus miteinander vergleichbare Formen verinnerlichter institutionalisierter Individualisierung: die christliche Beichte und die sozialen Rechte (die wie zivile und politische Grundrechte an das Individuum adressiert sind). Beide zwingen zur Selbstreflexion und üben individuelle Selbstzurechnung von Gesellschaftskrisen ein. Dabei zeigt sich, wie stark in Europa Institutionen und Mentalitäten von Religion geprägt worden sind, ohne dass sich dies im ausdrücklichen Bezug auf die zugrundelegenden religiösen Traditionen niederschlagen müsste. Das Christentum ist gleichsam in den sozialen Grundrechten verschwunden, und dieses Verschwinden kann als Zeichen des Erfolgs gesehen werden.


S. 160) Alles steht immer kurz vor dem Zusammenbruch

Die Vorstellung, wonach die sozialen Mega-Institutionen – Staat, Wissenschaft, Kapitalismus, Kulturindustrie – die "eigenen Leben" der vereinzelten Einzelnen durch und durch beherrschen, wird auch deshalb fragwürdig, weil diese Institutionen sich verflüssigen, andererseits die Individuen – oder "Dividuen" – keineswegs in den sozialen Netzwerken aufgehen bzw. perfekt in sie integriert sind. Die Individuen sind dazu verdammt, sich in erfindungsreiche "Bastler" und "Heimwerker" ihrer im Individualisierungs- und Globalisierungsprozess enttraditionalisierten und unlebbar werdenden Identitäten zu verwandeln. Das eigene Leben wird zu einer "Welt der Welten", in der nichts mehr ausgeschlossen und alles dauernd schnell entschieden werden muss. Den Individuen der Weltrisikogesellschaft ist die Möglichkeit hinreichender reflexiver Distanz zu sich selbst abhanden gekommen. Sie sind schlicht nicht mehr in der Lage, lineare, narrative Biographien zu konstruieren. Sie balancieren auf einem Hochseil in der Zirkuskuppel zwischen Scheidung, Jobverlust, permanenter Selbstanpreisung und flexiblem Selbstunternehmertum. Sie sind nicht Künstler, sondern Flickschuster ihrer selbst. Sie improvisieren, kombinieren, konstruieren Ad-hoc-Allianzen, um das Nötigste zu bewältigen, beispielsweise das Kind in den Kindergarten zu bringen oder aber dem "Gift der Woche" mit dem eigenen Speiseplan einen Haken zu schlagen. Alles steht immer kurz vor dem Zusammenbruch. Ob dies die Zutaten zum Abendessen, die Flugsicherheit, die Krankenversorgung, die Alterssicherung, die Europäische Union, die Universität, der Frieden, das Klima [...]


S. 163 f.) In konfessionellem Gehorsam

Die Kirchen in Dtl. und die großen Religionsgemeinschaften in anderen Ländern haben die Neuen Religiösen Bewegungen lange Jahre als "Sekten" für tendenziell unmoralisch, asozial und unvernünftig gehalten und sie entsprechend behandelt. Indem Theologie und Soziologie diesen Exklusionsbegriff wissenschaftlich sanktionierten, ergreifen sie nicht nur in konfessionellem Gehorsam Partei für die religiösen Monopole.
Vielmehr entlasten sie die Kirchen, wie sich selbst, davon, die Existenz der Neuen Religiösen Bewegungen ernst zu nehmen und im Zusammenhang von Macht- und Bedeutungsverschiebungen des kosmopolitischen religiösen Feldes zu analysieren. Der von Troeltsch – ergänzend – eingeführte Drittbegriff der frei fluktuierenden Mystik nimmt dagegen die Individualisierung der Religion vorweg. Er eröffnet den Blick für die Fließwirklichkeit der entgrenzten Religiosität und Spiritualität, für die Gleichzeitigkeit von Verschmelzung und Abgrenzung, von expliziter und impliziter Religiosität, von tradierten Religionsgemeinschaften und Neuen Religiösen Bewegungen.


Feindliebe als Horizonterweiterung


[...] Kirchen und Sekten mögen Differenzierungen wie Klasse und Nation überwinden, sie spalten die Welt in Gläubige und Ungläubige, denen sie, da sie sich dem "wahren Gott" verweigern, am Ende die menschliche Würde absprechen. Der eigene Gott der individualisierten Religiosität kennt dagegen keine Ungläubigen, denn er kennt keine absoluten Wahrheiten, keine Hierarchie, keine Ketzer, keine Heiden, keine Atheisten. Im subjektiven Polytheismus des "eigenen Gottes" haben viele Götter Platz.
Was Religionen und Kirchen, befangen in ihrem religiösen Wahrheitsanspruch, nicht nur für moralisch verwerflich, sondern für logisch ausgeschlossen halten, wird hier praktiziert: In der nomadischen Suche nach religiöser Transzendenz sind die Individuen beides zugleich: Gläubige und Ungläubige. Ja, der Sinn des eigenen Gottes liegt gerade in dieser "Feindliebe" als religiöser Horizonterweiterung. Die gewaltträchtige Spaltung zwischen Gläubigen und Ungläubigen wird unterlaufen, die "Ungläubigen" werden zum integralen Bestandteil der eigenen Glaubenserfahrungen.



S. 165) Zum Gottvater seines eigenen Gottes geworden

Erst so wird erkennbar, was sich im Zusammenspiel von alten und neuen Religionen und Bewegungen ereignet, nämlich nicht weniger als "eine religiöse Reformation im Weltmaßstab". (Was wohl Luther dazu sagen würde? Erfüllt sie seine Hoffnungen oder seine schlimmsten Befürchtungen? Oder beides zugleich?) Als globale Reformation kann sie nur "im Blick auf die sich herausbildende globale Gesellschaft" (Peter Clarke 2006: "New Religions in Global Perspektive. A Study of Religious Change in Modern World") wirklich verstanden werden. Auch wenn es keine klaren Zahlen gibt – nicht zuletzt weil die Grundbegriffe "Mitgliedschaft" und "Zugehörigkeit" verschwimmen – kann man davon ausgehen, dass die Neuen Religiösen Bewegungen "globale Religionen in ihrem eigenen Recht" sind. (ebd.)
Sie repräsentieren die Pluralität der Moderne.
Dieses Melangeregime des Religiösen ruft neue Widersprüche hervor. Ist die Suche nach Spiritualität nicht ein paradoxer Versuch, der bodenlosen Individualisierung Grenzen zu setzen?
Die Luthersche Konstruktion, durch die Gleichsetzung von "Textunmittelbarkeit" und "Gottunmittelbarkeit" die freigesetzte Individualisierung Gottes universalistisch einzudämmen, bricht nun in sich zusammen. Es stellt sich die Frage, ob das gottebenbildliche Individuum, zum Gottvater seines eigenen Gottes geworden, die Koordinaten der spirituellen Erhellung endgültig ins Absurde, Esoterische verschoben hat.



S. 166 f.) Katholischer Schamanismus und: "von den Eltern hineinsozialisiert"

Es geht also weniger darum, wie die alten Religionen predigen, Gottes Aufmerksamkeit und Unterstützung zu erringen, es geht darum, an der Schöpferkraft des inneren Gottes teilzuhaben.
Erst dem kosmopolitischen Blick zeigen sich auch die im konfessionellen Blick oft belächelten oder als blasphemisch abgetanen neuen Zwitterformen und (latenten) Polygamien des Religiösen, die längst trotz der monogamen Religionszugehörigkeit entstanden sind (Friedrich Wilhelm Graf 2004: "Die Wiederkehr der Götter"):
Schweizer Katholiken, die keine Schwierigkeit haben, an die Auferstehung Christi und die buddhistische Reinkarnation zu glauben, ein katholischer Schamanismus, der den Lebenden einen bemerkenswert freundschaftlichen Umgang mit den Toten ermöglicht, arabische Mullahs, chinesische Gelehrte, japanische Bonzen, tibetanische Lamas, hinduistische Panti, die Fatalismus wie Prädestination, Ahnenkult wie Anbetung des vergötterten Herrschers, Frohsinn des Pessimismus wie Erlösung durch Selbstverwirklichung predigen. Damit wird deutlich: Die Neuen Religiösen Bewegungen ersetzen nicht die alten, sie gestalten sich vielmehr wechselseitig um in ihrem Verständnis von Begriffen wie Transzendenz und Glauben, Gut und Böse usw.
Es kommt auf diese Weise – zunächst bei den Gläubigen – zu einer "subjektiven Kosmopolitisierung" der Religionen. Prägnante Formulierungen für die zombieartigen Sowohl-als-Auch-Formen entkernter Kirchenfassaden, hinter denen die Säkularisierung in Europa fortschreitet, hat Grace Davie gefunden. Sie spricht von believing without belonging (Mitgliedschaft ohne Glauben) gegenüberstellen, aber auch eine dritte Zwitterform des Sowohl-als-Auch, nämlich multiple believing with belonging: multiple Glaubensbindungen trotz konventioneller Kirchenmitgliedschaft.
Nach wie vor wird man (wie die Statistik zeigt) in Dtl. und in anderen europäischen Ländern in die religiöse Gemeinschaft hineingeboren und von den Eltern hineinsozialisiert, und man verbleibt in der Glaubensgemeinschaft, wenn man nicht wechselt oder austritt. Was das heißt, ist jedoch vollständig offen.
Viele bedienen sich aus dem reichhaltigen weltreligiösen Angebot je nach Bedarf, ohne Austritt aus der alten Kirche und auch ohne Eintritt in eine andere.

Die Beck'sche Standardindividualisierung



Ulrich Beck: Der eigene Gott

pt 1 & pt 2 & pt 3 & pt 4 & pt 7 & pt 8 & pt 9 & pt 10


S. 114 f.) Institutionalisierte Individualisierung,
monotheistische Großidentitäten,
pragmatisches Entdogmatisieren
und: Die Einheit von Religion und Glauben zerbricht

Es ist die Radikalisierung der freien Religionswahl, die die institutionalisierten "Religionsklassen" und "Volkskirchen" der Ersten Moderne – beispielsweise entweder katholisch oder evangelisch – aufhebt, aushöhlt, in jedem Fall schwächt und für individuelle Entscheidungen öffnet.
2. Damit zeichnet sich nicht das Ende der Religion ab. Es findet eine Renaissance einer neuartigen, subjektiven Glaubensanarchie statt, die immer weniger in die dogmatischen Gerüste passt, die die institutionalisierten Religionen bereitstellen. Die Einheit Religion und religiös, von Religion und Glauben zerbricht. Ja, Religion und Glauben treten in Widerstreit.
In den westlichen Gesellschaften, die durch eine institutionalisierte Individualisierung (in Gestalt von an das Individuum adressierten zivilen, politischen und sozialen Grundrechten), aber auch durch die Individualisierungsdynamik des Arbeitsmarktes gekennzeichnet sind, die also die Autonomie des Individuums als Prinzip verinnerlicht haben, schafft sich der einzelne Mensch in immer größerer Unabhängigkeit diejenigen Glaubenserzählungen – den "eigenen" Gott – die zum "eigenen" Leben und "eigenen" Erfahrungshorizont passen.


Es ist der Sieg, nicht das Ende der Moderne


In Europa wird viel Aufhebens um die Gefahren – um die bevorstehende "kulturelle Katastrophe" – gemacht, die dieses chaotische Durcheinander und Gegeneinander von (institutionalisierter) Religion und (individualisiertem) Glauben mit sich bringen. Zweierlei ist dabei wichtig: Zum einen ist dies keineswegs ein Zeichen des Endes der Moderne, es handelt sich vielmehr um den Sieg der Moderne. Es ist die radikalisierte (Religions-)Freiheit, die sich nun gegen die familien-, klassen-, ständisch, ethnisch, milieugebundene Religionsvererbung wie gegen die vorgegebene Kollektivität religiöser Blockidentitäten wendet.
Es ist zum anderen eine Tatsache, dass Individuen ihre Kompetenzen als spirituelle und religiöse "Heimwerker" (Ronald Hitzler) im Umgang mit religiösen Symbolen ausbilden, die fast immer aus dem Kontext herausgelöst wurden, der einst ihre Lesbarkeit garantierte. Dagegen Sturm zu laufen, vernebelt nur die Situation.
Es ist die Individualisierung des Glaubens als Realität zu akzeptieren und nicht einer Zeit hinterherzutrauern, in der "intakte" religiöse Milieus (Familien, Klassen, Ethnien, Stände, Nationen), die klar voneinander abgegrenzt und gesellschaftlich identifizierbar waren, monotheistische Großidentitäten ermöglichten.
Allerdings ist die pragmatische Entdogmatisierung der Religionen ambivalent, öffnet sie doch der Banalisierung und Trivialisierung Tür und Tor: Jedes Wellness-Hotel schmückt sich mit buddhistischen Weisheiten, religiöses Analphabetentum breitet sich aus, Atheisten wissen nicht einmal, an welchen Gott sie nicht mehr glauben.
Die Individualisierung der Religion ist mit der Individualisierung sozialer Klassen und der Individualisierung der Familie vergleichbar. Erst der Zusammenhang zwischen diesen (meist isoliert voneinander betrachteten) Dimensionen macht gesellschaftlich Individualisierung aus, die den "Aggregatzustand", die Qualität von Gesellschaft tiefgreifend verändert.
In allen diesen Schlüsselkategorien des sozialen Lebens kommt es zu einer neuartigen inneren Vielgestaltigkeit, Widersprüchlichkeit und Unvorhersehbarkeit der Konstellationen.
Dadurch lösen sich alte institutionalisierte Schablonen, Gewissheiten und Leitbilder auf, und es entstehen Kombinationen von unterschiedlichen Symbolressourcen.



S. 119 f.) Eindampfung der Lehre auf persönliche Erfahrungen mit dem Heiligen Geist

8. Die Individualisierung des Glaubens ist nicht gleichbedeutend mit Standardisierung. Ebensowenig wie die enttraditionalisierte Liebe und Sexualität zu individualisierter Liebe und Sexualität führt, im strikten Sinne, bringt die Enttraditionalisierung des Glaubens keine wirklich individuelle Vervielfältigung der Glaubenserzählungen hervor. Dagegen spricht allein schon die Warenförmigkeit der angebotenen "Religionsprodukte" und deren standardisierter Konsum. Die Individualisierung des Glaubens folgt also den Mechanismen der religiösen Symbolökonomie, die mehr und mehr von den Gesetzen des Marktes durchdrungen wird. So kommt es zu der Paradoxie, dass hochindividualisierte Glaubenskulturen, in denen jeder bzw. jede sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach die Authentizität der spirituellen Glaubenserzählung selbst zurechnet, aus einer Außenperspektive beobachtet, völlig standardisiert funktionieren.
Das individualisierte Glaubensmuster ist demzufolge das kollektive Standardbewusstsein, das ich als solches nicht mehr zu durchschauen vermag, weil es sich als individualisiertes Selbstbewusstsein versteht.
Was meint Standardisierung?
Ein Indikator für sie ist – zumindest in der europäischen Welt des Christentums – der empirisch nachweisbare Bedeutungszuwachs eines "Minimal-Credos". Dieses lässt sich wie folgt zusammenfassen: "Gott liebt dich, Jesus erlöst dich, du kannst geheilt werden!" Dies bedarf keiner theologischen Auslegung, muss sich vielmehr in persönlichen Glaubenserfahrungen und Glaubenspraktiken bewähren. In den Suchbewegungen des Glaubens

"verbindet sich diese 'Eindampfung der Lehre' mit der Ausbreitung emotionaler Formen der Religiosität. Sie fordern explizit dazu auf, den Intellekt 'auf den Rücksitz zu verbannen' und emotionalen Erfahrungen der Präsenz des Heiligen Geistes einen viel höheren Wert beizumessen. Dieser theologische Minimalismus, der den Transzendenzbezug auf die rein emotionale und personalisierte Erfahrung der Nähe zum göttlichen Wesen reduziert, erlaubt die effiziente Anpassung der religiösen Lehrgehalte an die vom modernen Individualismus erhobene Forderung nach persönlicher Selbstverwirklichung."
(Danièle Hervieu-Léger 2006: "In Search of Certainties. The Paradoxes of Religiosity in Societies of High Modernity" in "The Hedgehog Review" no. 8, "After Secularization" p. 59-68)


S. 120 f.) Der herausragendste "Ich-Philosoph" ist Fichte

Die Kunstreligion folgt auf den Zusammenbruch der Wissenschaftsreligion, *) die ihrerseits eine Reaktion auf den Zusammenbruch der Religion darstellt (grob vereinfacht gesagt). Dabei wird "Kunst" zumeist als ein Exerzierfeld gedacht, auf dem quasi-religiöse Haltungen einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft eingeübt werden können. Im Kunsterlebnis kommt eine sakrale Aura zur Sprache, in dem sich das religiöse Empfinden einer säkularisierten Welt äußert und Geltung gewinnt. Darin drückt sich ein religiöser Dezisionismus aus, der auf der Paradoxie beruht, dass sich der glaubende Mensch den "eigenen" Gott schafft, dessen Selbstoffenbarung dem "eigenen" Leben subjektive Gewissheit und Erlösung verspricht. Man wird hier an den Ich-Philosophen Fichte erinnert, der das sich selbstsetzende Ich als Quelle aller transzendenten wie immanenten Einsichten und Gewissheiten begreift.

*) Der Begriff Wahrheit an und für sich scheint mir nicht sehr nützlich. Wir können nie wirklich sicher sein, was wahr ist, auch nicht mit den besten wissenschaftlichen Methoden. Wissenschaftlich gesehen muss Wahrheit immer eine Annäherung bleiben. Henry Gee hat das viel eloquenter ausgedrückt als ich es je könnte: Wissenschaft ist ihm nach die "Quantifizierung des Zweifels". Dies zeigt m.E. den Gegensatz zur Religion. Zweifel ist dort häufig etwas negatives, und ist er es nicht, geht es um dessen Überwindung oder den Umgang damit. Quantifizierung hingegen impliziert wie Wissenschaft eine Methode und ist kein Weltbild.
Shin) Wissenschaft ist kein Glaubenssystem, keine Ideologie und kein Weltbild, sondern ein Prinzip, eine Methode, wenn man so will ein Werkzeug. Das älteste und beste das wir haben.



S. 123 f.) Makrosoziologisches Tiefenphänomen

Individualisierung war in weit zurückliegenden Jahrhunderten ein bloßer Wert, eine Idee, eine Ideologie. Doch das hat sich inzwischen zu einer institutionalisierten Moral verdichtet und kristallisiert, die machtvoll und effektiv die Grundlagen der modernen Welt jenseits dessen begründet, was Eric Hobsbawm die zwei Revolutionen des 19. Jh.s nennt: die Revolution, die zum modernen, demokratischen Nationalstaat führte, und die andere, die das hervorgebracht hat, was Max Weber den "Geist" des Kapitalismus genannt hat, welcher aus der protestantischen Arbeitsethik hervorgegangen ist. Beide – die nationalstaatliche Demokratie und der unternehmerische Kapitalismus – beruhen auf dem Prinzip des freien Individuums, das seine aufgeklärten Selbstinteressen vertritt, während es zugleich das Recht beansprucht, seine politische Stimme zu erheben (und selbstverständlich das Recht auf Privateigentum), und diese Rechte in den Arenen der demokratischen Polis verteidigt.
Individualisierung, aufs Engste mit dem Ethos des Christentums und der Moderne verbunden, bedeutet die Kultivierung des Eigensinns aller Menschen ohne Unterschied.
Dem subjektiven Missverständnis der Individualisierung liegt die Annahme zugrunde, wonach das Individuum, das um sich selbst kreist, auch Autor seiner Selbstumkreisung ist. Auf diese Weise wird verkannt, dass die Utopie des eigenen Lebens und damit die Utopie des eigenen Gottes in die institutionelle Tiefenstruktur der westlichen Welt eingebrannt sind. Auf den Punkt gebracht: Individualisierung muss klar unterschieden werden von Egoismus. Während Egoismus gewöhnlich als eine persönliche Attitüde oder Präferenz verstanden wird, meint Individualisierung ein makrohistorisches, makrosoziologisches Tiefenphänomen, das sich möglicherweise – aber nicht notwendigerweise – in Einstellungsveränderungen von Personen niederschlägt.
Das ist die Crux der Kontingenz, die durch die Individualisierung in die Welt kommt:
Es bleibt offen, wie die Individuen mit ihr umgehen.

Ähnlich wie Zygmunt Bauman und Anthony Giddens betone ich, dass Individualisierung missverstanden wird, wenn sie als ein Prozess verstanden wird, der aus einer bewussten Wahl oder der Präferenz des Individuums hergeleitet werden kann. Individualisierung wird tatsächlich den Individuen als Resultat der langen Geschichte moderner Institutionen auferlegt.
Das hat niemand so früh und so klar gesehen wie Émile Durkheim,
der bereits vor hundert Jahren nachgezeichnet hat, wie die Heiligkeit der Religion auf die Heiligkeit des Individuums übertragen wird.



S. 128 f.) Lehrgewalt

Individualisierung ist, wie gesagt, eine urchristliche Erfindung. Das Christentum hat von Anfang an den Einzelnen angesprochen – jenseits von Stand, Klasse, Ethnizität und Nation, und damit ist es moderner als viele seiner Gegner. Und doch sind paradoxerweise diese Grundlagen einer politischen Theologie des eigenen Gottes den christlichen Kirchen von außen aufgezwungen worden.
Die Proklamierung der christlichen Konzeption von der Würde und den Rechten des Menschen musste, wie auch der Ratspräsident der Evangelischen Kirche Dtl.s., Wolfgang Huber, betont, "vielfach gegen den Widerstand christlicher Kirchen und Gruppen durchgesetzt werden." Das gilt für Protestanten und Katholiken gleichermaßen: "Das päpstliche Lehramt betrachtet die Menschenrechtsideen als von der Reformation inspirierte 'zügellose Freiheitslehren' (Papst Leo XIII.), die mit dem Naturrecht ebenso unvereinbar seien wie mit der Lehrgewalt des kirchlichen Amtes. Die im dt. Protestantismus vorherrschende Auffassung 'sah in den Menschenrechten einen Individualismus am Werk, der die Sündhaftigkeit des Menschen und die Notwendigkeit einer stabilen staatlichen Ordnungsmacht verkenne.'" (Huber 1992, zitiert nach Angenendt 2007, Toleranz und Gewalt S. 117)

"Wir sind allesamt Katholiken,"

heißt es dagegen bei Sartre in "Das Sein und das Nichts". Sartres "Wir" meint die Europäer.



S. 131 f.) Verkirchlicht, Grad der Verkirchlichung

Bei der Taufe als christlichem Basisprinzip ist (mehr oder weniger offen) ein Widerspruch eingebaut: Die Souveränität der subjektiven Wahlentscheidung, das individuelle Bekenntnis zum Glauben, auf dem alles beruht, schließt die Preisgabe der Souveränität ein, die Ein- und Unterordnung in die vorgegebene Hierarchie und Orthodoxie der Glaubensgemeinschaft. Entsprechend kann man verschiedene Religionen (Katholiken, Protestanten, Buddhisten, Muslime, neue religiöse Bewegungen) danach unterscheiden, wie sie mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Individualisierung und Kollektivierung des Glaubens umgehen, wie "verkirchlicht" oder "nicht-verkirchlicht" sie also sind. Die Religiosität bzw. Spiritualität des "eigenen Gottes" wäre dann im Extremfall das stolze Selbstbewusstsein, vor Gott, für Gott, ein unverwechselbarer eigener Mensch zu sein, weder eingebunden in die Kirche noch in die Gemeinde.


S. 132 f.) Beck und (Reinhard) Marx und bayerischer Treibsand

Die christliche Individualisierung resultiert nicht in der Glorifizierung des Ich.
Sie besteht in der generellen Ermächtigung des glaubenden Individuums, das mit der christlichen Lehre zugleich eine Grenzen überwindende Gemeinsamkeit und Gemeinschaft stiftet. [...]
Der christliche Kult des Individuums kennt als oberstes Dogma die Autonomie der individuellen Erfahrung, des individuellen Gewissens (was man später dann sogar "Vernunft" nannte) und als obersten Ritus die freie Prüfung. Hier zeigt sich der elementare Widerspruch (Oder soll man sagen: die Ironie?) der auf dem individuellen Glaubensbekenntnis aufbauenden christlichen Orthodoxie: Die kirchliche Hierarchie, einschließlich der Inquisition, wird zur Brutstätte des modernen Individualismus, der an seinem vorläufigen Ende die Autorität und den Bestand der christlichen Kirchen, zumindest in Europa, gefährdet oder zur Redefinition des Christentums zwingt. Wer also versucht, die individualistische Moral der modernen Gesellschaft als Gegenspieler zur christlichen Moral darzustellen und diese als Rezept gegen jene zu verschreiben, begeht einen kapitalen Irrtum, denn er versucht, den Teufel des Individualismus mit dem Beelzebub der christlichen Moral des Individuums auszutreiben.
[...] Die Unterscheidung von Kirche und individuellem Glauben (wobei die Priorität auf den Glauben einzelner Christen, der immer einen ganz persönlichen, spezifischen und unmittelbaren Charakter hat, gelegt wird, die Autorität des Christentums also auf dem Treibsand individueller Frömmigkeit gründet) führt zu einer Verflüssigung der Grenzen.

Die Gesellschaft im Innersten der Identität



Ulrich Beck: Der eigene Gott

pt 1 & pt 2 & pt 3 & pt 5 & pt 7 & pt 8 & pt 9 & pt 10


S. 102) Theoriediagnostisches Zauberwort
und Tiefenschärfe im Ansturm der Fremdheit

Die neuen Konturen der Gegenwartsgesellschaft, die sich als "Nebenfolge" globalisierter und radikalisierter Modernisierungen herauskristallisieren, können theoriediagnostisch als "Zweite Moderne" begriffen werden. Zu ihren neuen Grundzügen gehören: Verwobenheit von Menschen und Bevölkerungen über den Globus hinweg. Wachsende Ungleichheiten im globalen Raum. Die Herausbildung neuer supranationaler Organisationen in den Bereichen Wirtschaft (transnationale Unternehmen), Politik (nichtstaatliche Akteure wie IWF, Weltbank, WHO, Internationaler Gerichtshof), Zivilgesellschaft (advokatorische soziale Bewegungen wie Amnesty International, Greenpeace, feministische Netzwerke, Attac). Neue, normative Konzepte wie Menschenrechte. Neue Typen und Profile globaler Risiken (Klimawandel, globale Finanzkrisen, Aids). Neue Formen der Kriegführung, der global organisierten Kriminalität und des Terrorismus sowie neue Formen der Koexistenz, des Konflikts und der Kooperation der Weltreligionen.
Mit Grenzen, die durchlässig werden, also keine mehr sind, wird das Zauberwort einer kosmopolitischen Existenz ausgesprochen: die Bewährung des Ichs wie ganzer Gesellschaften im Ansturm der Fremdheit. Es findet derart eine "innere Globalisierung" in nationalen und lokalen Lebenswelten statt. Dies verändert die Bedingungen der sozialen Identitätskonstruktion, die nicht länger durch die negative, konfrontative Dichotomie von "wir" und "denen" konturiert werden muss. Gerade im Umgang mit dem religiösen Anderen wird deutlich, dass Kosmopolitisierung nicht irgendwo im Abstrakten oder Globalen operiert, in der externen Makrosphäre, irgendwo über den menschlichen Köpfen, sondern sich im Innersten der Menschen abspielt, im Verhältnis zu Gott, Welt und sich selbst. Das gibt den Konflikten der religiösen Kosmopolitisierung – dem Aufschwung der Fundamentalismen, aber auch dem Ringen um einen eigenen Gott – seine Tiefenschärfe.

Das Bewusstsein dieser Veränderung hinkt hinter der objektiven Realität hinterher, weil die Menschen immer noch den "nationalen Blick" haben, der suggeriert, die Nationalstaaten seien die wichtigsten "Container", innerhalb deren sich das menschliche Leben abspielt. Auch die dominante persönliche Identität wird durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Nationalstaat definiert, in Abgrenzung zu anderen Nationalstaaten. Das allerdings ist obsolet. Nationalstaaten existieren zwar nach wie vor, aber immer weniger als isolierbare Machtbehälter mit klaren Grenzen, wie dies für die Epoche der "Ersten Moderne" zutraf.
Ganz ähnlich wendet der größte Teil der Soziologie (aber auch andere Sozialwissenschaften) immer noch die Regeln des "methodologischen Nationalismus" an, indem Gesellschaften in den territorialen Grenzen des Nationalstaates als natürliche Einheiten der Datenproduktion und -analyse verstanden werden. Das sind Autobahnen der Konvention, die ins Nirgendwo führen. Ebenso wie die Begrifflichkeit der Nationalökonomie läuft die Begrifflichkeit der Nationalsoziologie leer, wird "empirisch blind". Daher wird die reale, objektive Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse am Beginn des 21. Jh.s völlig unangemessen reflektiert, sowohl auf der Ebene des sozialen Bewusstseins als auch der soziologischen Methodologie.



S. 103) Theologie in ihrer soziologischen Dimension

Religionen wohnt ein alternative Gesellschaftsverständnis inne, von dem die im methodologischen Nationalismus befangene Soziologie und Politikwissenschaft lernen kann. Kann eine Soziologie Gottes – der Gottesvorstellungen, der religiösen Rituale – exemplarisch klären, welche "Zutaten" Gesellschaft braucht, damit sie Gesellschaft wird, bleibt? Die Antwort der Soziologie der Modernisierung lautet: Gesellschaft wird zusammengehalten durch Zweckrationalität, Interessen, Klassen, Markt, Wissenschaft und entsprechende Organisationen einerseits und durch sozial konstruierte "Nationen", die sich gegeneinander abgrenzen und den demokratisch legitimierten National- und Wohlfahrtsstaat begründen, andererseits. Das gegenteilige Gesellschaftsbild der Religion definiert sich nicht nur durch Unterschiede beim Bezug auf die Transzendenz – entweder man glaubt an Gott oder man glaubt nicht an Gott – es lautet vielmehr: Die Gesellschaft der Religion liegt darin, dass sie wirkliche, emotionale, moralische Tiefenbindungen zwischen Individuen über die sozialen Grenzen von Klasse, Kaste, Geschlecht und Nation hinweg stiftet. (John Milbank wirft 2006 mit "Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason" die zentrale Frage nach einer Sozialtheorie jenseits der "säkularen Rationalität" auf.)
Man kann die Realität der Religion soziologisch beobachten, nämlich dass und wie Religionen die Individuen, Gruppen, Organisationen, Gesellschaften grenzenübergreifend zusammenfügen, zusammenhalten, zusammenschweißen, gegeneinander abgrenzen und aufeinander hetzen. Dieses "Dass" und "Wie" zeigt:
Die Weltreligionen gehen, was ihren Gesellschaftsbegriff betrifft, mit einem Startvorteil in die Zweite Moderne.



S. 105) Kultischer Kitt

Paradox formuliert ist es gerade das nicht-moderne Gesellschaftsverständnis, das die Weltreligionen für die Zweite Moderne qualifiziert. Katholiken, Muslime, Buddhisten usw. gehen hinter den Helden und Heiden der Moderne in die Drehtür hinein und kommen vor ihnen wieder heraus.
Schon Émile Durkheim argumentiert in seiner klassischen Studie "Die elementaren Formen des religiösen Lebens", dass der Gesellschaftsbegriff der Religion der Soziologie der Modernisierung eine zentrale Lehre erteilen kann, nämlich die: Auch moderne Gesellschaften produzieren und reproduzieren ihre Wirklichkeit und ihre Bindungen durch Rituale, die Emotionen stiften. Sie bilden den "Kitt", der die Mitglieder der Gruppe bzw. der Gesellschaft zusammenhält. Dies spiegelt sich darin, dass religiöse Rituale den normalen Alltag durchziehen und stabilisieren. Auch in Zeiten fundamentalen Wandels und politischer Krisen ermöglicht die Praxis der Rituale eine Art Transformation durch Integration.
In religiösen Symbolen, Liturgien, Zeremonien wird die Gruppensolidarität und -identität [...] gestärkt und verlebendigt. Religiöse Rituale befreien die Menschen von Sorgen des profanen Lebens und öffnen sie für Erfahrungen und Werte der Transzendenz. Diese praktizierte Vermischung von Diesseits und Jenseits stiftet eine Art von Gemeinsamkeit und Gesellschaft, die eine rationale Basis der Interessen nicht erzeugt, weil Religion moralische und emotionale Kollektiverfahrungen hervorbringt, die der zentrifugalen Dynamik der Individualisierung entgegengerichtet sind. Rituale "naturalisieren" Gesellschaft: Sie produzieren und reproduzieren Selbstverständlichkeiten, die so selbstverständlich werden, dass sie nicht mehr bewusst sind, aber gerade dadurch den höchsten Grad gesellschaftlicher Wirklichkeit erhalten (wie dies Garfinkel und andere im Rahmen der "Ethnomethodologie" durch sogenannte "Krisenexperimente", die diesen Grad der naturalisierten Selbstverständlichkeit gezielt außer Kraft setzen, bewusstmachen).



S. 106 f.) Cogito ergo sumus – ich denke, also sind wir

Ja, "Gesellschaft" ist eine Kraft, die größer ist als alle Individuen. Sie kann über Leben und Tod entscheiden.
Jeder hängt von Gesellschaft ab, hängt im Innersten seiner Identität mit ihr zusammen. Das Gesellschaftsbild der Religion sagt: Gott ist ein Symbol der Gesellschaft, Gesellschaft symbolisiert Gott.
Auch die Soziologen, die die "gesellschaftlichen Verhältnisse" jenseits des Alltagsbewusstseins ansiedeln, die zugleich dieses (für das Alltagsbewusstsein oft undurchschaubar) wesentlich bestimmen, gehen davon aus: Es ist keine Illusion, dass etwas außerhalb unseres Selbst da ist, mächtig und doch unsichtbar, wie "Gott", wie "Gesellschaft". Die Gesellschaftsanalogie Gottes und die Gottanalogie der Gesellschaft existieren sowohl im Inneren unseres Lebens als auch im Äußeren – für uns wie für andere.
Wir alle sind Teil der Gesellschaft. Die Gegenüberstellung von Ich und Gesellschaft ist falsch.
Man kann den Grundsatz Descartes' "cogito ergo sum" ersetzen durch den Grundsatz "cogito ergo sumus": Ich denke, also sind wir. [...]
Da soziale Kommunikation unsere Welt konstituiert, heißt das: Gesellschaft ist zugleich drinnen und draußen (wie immer dies definiert sein mag). Das macht Religion so fundamental: Religion drückt die essentiellen Fakten unserer menschlichen Existenz aus.
In Religion kommt eine Strukturähnlichkeit bzw. Wahlverwandtschaft zwischen religiöser Symbolik und gesellschaftlicher Existenz zur Sprache und gewinnt exemplarische Realität. Da Religion soziale Bindungen erzeugt, festlegt, was als "gut" und "böse" gilt, was dem Individuum auch um seiner selbst willen heilig zu sein hat, hat die Gesellschaft der Religion zwei fundamental entgegengesetzte Gesichter: Sie kann aus Egoisten Altruisten machen, aus toleranten Menschen Fanatiker, die Selbstmord als blinden Massenmord inszenieren und praktizieren.



S. 107 ff.) Religion – Quelle und Gully (Sickergrube) von Individualisierung

Auch die Individualisierung ist pränational, nationalstaatlich und postnational – pränational, weil sie (zumindest im Christentum) kirchlich geprägt und gehegt ist, und weil die christliche Kirchen (die protestantische mehr noch als die katholische) als historische Sozialisationsinstanz und Konservator eines provozierten wie dressierten Bekennerindividualismus aufgetreten sind.
Wer also als Gegengift gegen die "grassierende Krankheit des Individualismus" dreimal täglich die christliche Moral verschreibt, fördert den Individualismus, den er zu bekämpfen vorgibt.
Die Formel "Individualisierung der Religion" artikuliert einen realen Widerspruch.
Religion ist nämlich zum einen das Gegenteil von Individualisierung, sie ist Bindung, Gedächtnis, kollektive Identität und Ritual, aus denen, profanisiert und naturalisiert, die Gesellschaftlichkeit "gemacht" ist, hervorgeht. Religion ist zweitens die Quelle von Individualisierung. Gehe und bete zu dem Gott deiner Wahl! Religion beruht auf der Glaubensentscheidung des einzelnen und damit letztlich auch auf der Unterstellung der Freiheit des Individuums.
Religion ist demnach das Gegenteil und die Quelle von Individualisierung. Dieser Gegensatz zieht sich als Blutspur durch die Geschichte des Christentums. Die erste große Versicherungspolice gegen das Verlöschen des eigenen Lebens war das kirchliche Versprechen des ewigen Lebens, das Leben aller in und mit Gott. Der Tod als Bewährung vor Gott ist eine Erfindung, die durch die Jahrhunderte hindurch die Seelen beunruhigte – und vereinzelte. Tod bedeutete persönliche Rechenschaft ablegen vor Gott. So begann die Ursünde des Individualismus. Als Forderung der Kirche.


Institutionalisieren = fordern und fesseln


Um diese Paradoxie drehte sich durch die Jahrhunderte hindurch der Theologenstreit: Das Individuum gilt nun als wertvoll und wird im Prinzip als selbstbestimmt bedacht. Es ist fehlbar. Freiheit kommt im theologischen Gewande als die menschliche Möglichkeit der Sünde auf die Welt. In solchen Thesen ist bereits der Keim der Ketzerei, der Schismen, der Pluralisierung und Privatisierung der Religionen enthalten, der die innere Verwandtschaft von absoluter Wahrheit und Gewalt bis heute heraufbeschwört. Denn wo fände die Freiheit des Individuums ihren Grund, wenn nicht in der freien Glaubensentscheidung, die die Kirche institutionalisiert, d.h. zugleich fordert, verspricht und in Fesseln legt? Wo aber bleibt die Kirche, wenn der Mensch die Glaubensfreiheit wahr- und ernst nimmt? Dass das christliche Glaubensbekenntnis individuell und frei ist, also nicht durch Herkunft, Ethnizität, soziale Stellung, Geschlecht, Alter vorgegeben wird, ist der erste Schritt zur Säkularisierung und Individualisierung der Religion, der heute in der multiplen Religiosität des eigenen Gottes einen neuen Kristallisationspunkt findet.


Mythische Dialektik


Die kirchliche Dogmatik bleibt auch hier seltsam unentschieden: Einerseits sind die Welt und alles Treiben der Menschen nichtig. Sie ist Schall und Rauch vor Gott. Andererseits hängt vom Vollzug des eigenen Lebens nun alles ab: ewiges Leben oder ewige Verdammnis. Das entscheidet sich im Tod. Der Tod ist also eine Prüfung, die Prüfung auf der Karriereleiter ins ewige Leben (etwa dem zweiten Staatsexamen vergleichbar, das heutzutage die Tore in die staatsdienliche Unkündbarkeit öffnet. Mit der Größe der Strafandrohung – der Hölle und/oder dem Fegefeuer und/oder dem Erhängen oder Verbrennen im Diesseits – wird versucht, den theologischen Lapsus auszubügeln, die Individuen in die Freiheit der Glaubenswahl entlassen zu haben.
Das individualisierte Leben entsteht und steht unter der Drohung der ewigen Verdammnis. So wird die Freiheit, die Zügellosigkeit, die Anarchie der individualisierten Gesellschaft ermöglicht und zugleich aufgehoben.


Bewährung im Beruf wird zur Prüfung vor Gott


Im gleichen Maße aber wird das Leben auf sich selbst gestellt. Die Bewährung im Beruf wird zur Prüfung vor Gott. Wie Max Weber in seiner Protestantismus-Studie zeigt, bezieht die Rücksichtslosigkeit, mit der die Welt – auch die Überlieferung – von den modernen Menschen erobert, entzaubert wird, ihre Rechtfertigung aus dieser irdischen Bewährungsprobe des Menschen vor Gott. Ein auf sich selbst bezogenes, auf Gewinn ausgerichtetes, "rationales" Leben zu führen, wird zum Gottesgebot.
Diese Selbstentmachtung der Kirche, dieses Sich-selbst-das-eigene-Grab-Schaufeln der Theologie wird in allen Stadien der Säkularisierung und Resakralisierung Schritt für Schritt radikal zu Ende buchstabiert.
Entsprechend ist in historischer Langzeitperspektive zu unterscheiden zwischen Individualisierung Eins und Individualisierung Zwei: Individualisierung Eins meint Individualisierung in der Religion (z.B. Protestantismus), Individualisierung Zwei meint Individualisierung von der Religion ("eigener Gott").



S. 111 f.) Die "Neue-Welt"-Ordnung

Weltrisikogesellschaft ist ein anderes Wort für die Unausgrenzbarkeit der kulturell Anderen. Es kennzeichnet die Dichte der Welt, in der alle mit allen in der neuen Unmittelbarkeit einer zugewiesenen Nachbarschaft leben.

In der unausweichlichen Enge "steigt die autodidaktische Spannung. Man erlebt, wie uns die Nebenwirkungen des Handelns immer rascher einholen. Wo Fatum war, wird Feedback werden. Die Menschheit ist eine zum Erfolg verdammte Selbsterfahrungsgruppe, deren Teilnehmer sich gegenseitig so sehr unter Druck setzen, dass sie wohl noch im laufenden Jahrhundert einen halbwegs lebbaren Kodex erarbeiten könnten." (12/23'06 Sloterdijk "Ich bin nicht leicht zu provozieren.")

[...] Die zueinander an allen Orten der Welt in Konkurrenz tretenden Weltreligionen halten sich selbst nicht nur für die einzig wahre Religion, sondern auch für eine moralische Bewegung, die der Menschheit den Weg weist.
Kommt in solchen Thesen – so wäre zu fragen – nicht die weltverbesserliche Auffassung zum Ausdruck, wonach es kulturellen Selbstmord bedeutet, die zentrale Wahrheit der eigenen kulturellen Herkunft zu unterdrücken, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind und infolgedessen Demokratie die einzige Herrschaftsform ist, die die menschliche Würde garantiert? In der zugewiesenen Unmittelbarkeit der Nachbarschaft aller mit allen und der Fundamentalkonfliktquellen, die damit allgegenwärtig werden, ist diese Wahrheit meiner Überzeugung nach wichtiger denn je. Sie ist geradezu der Schlüssel zum Überleben.
Das ist ein Teil der Crux: Es gibt keine überparteilichen Beobachter, keine überparteilichen Lehrer und Lehren – es sei denn, sie bilden sich im Überlebenskampf der Weltreligionen heraus.