September 30, 2010

Wenn Priester sich dem Bösen verschreiben



Christopher Hitchens 2007: God is not great

pt 1 & pt 2 & pt 4 & pt 5

Hitchens debating Shashi Tharoor, UN Under-Secretary General for Communications, novelist

-dangerics- said: "Bad ideas are bad ideas, even if they are religious. Bad ideas don't deserve respect. People do.
But if someone goes up against Hitchens and expects their views to be respected or handled delicately then s/he is a moron.
I agree with you that you can't discount people as immune to change.
Many religious people have later in life learned the error of their thinking."

S. 228-236)
Wenn Priester sich dem Bösen verschreiben, dann gleich richtig.
Dann begehen sie Verbrechen, die den Durchschnittssünder blass aussehen lassen.
Das könnte eher der sexuellen Verdrängung zuzuschreiben sein als der theologischen Doktrin, doch diese Doktrin umfasst ja nun auch die sexuelle Verdrängung ... Damit ist der Zusammenhang unvermeidlich, und nicht zufällig geht seit Anbeginn der Religion unter den kirchlichen Laien diesbezüglich eine ganze Litanei folkloristischer Witze um.
Waugh verstieß in seinem Leben sehr viel ausgiebiger gegen das Gebot der Keuschheit und der Nüchternheit als Ayer – was ihm allerdings nicht mehr Glück bescherte – und er wurde häufig gefragt, wie er sein Privatleben mit seinem nach außen dokumentierten Glauben vereinbarte. Seine Antwort ist berühmt: er bat seine Freunde sich vorzustellen, wie viel schlimmer sein Verhalten wäre, wenn er kein Katholik wäre. Wer wie er an die Erbsünde glaubt, meint damit vielleicht den Spieß umgedreht zu haben, doch wenn man sich Waughs Leben näher ansieht, wird deutlich, dass just die schlimmsten Auswüchse seinem Glauben entsprangen. Lassen wir die traurigen Exzesse der Trunkenheit und der ehelichen Untreue einmal beiseite.
Einer geschiedenen und frisch wiederverheirateten Freundin schickte er einmal ein Hochzeitstelegramm, in dem er ihr mitteilte, mit ihrer Hochzeitsnacht mache sie Jesus auf dem Berg Golgatha noch einsamer und spucke ihm ins Gesicht. Waugh unterstützte faschistische Bewegungen in Spanien und Kroatien ebenso wie Mussolinis üble Invasion Abessiniens, weil sie vom Vatikan gutgeheißen wurden, und 1944 schrieb er, nur das Dritte Reich stehe nun noch zwischen Europa und der Barbarei.

Diese Entgleisungen unterliefen dem von mir hochgeschätzten Autor nicht trotz seines Glaubens, sondern infolge seines Glaubens. Zweifellos gab es immer private Akte der Nächstenliebe und der Reue, die aber ein ungläubiger Mensch ebenso gut hätte vollbringen können. Der große Colonel Robert Ingersoll, bis zu seinem Tod im Jahr 1899 einer der führenden Agnostiker der USA, ein tapferer Offizier und einer, der, wie Thomas Edison es in verzeihlicher Übertreibung formulierte, "alle Eigenschaften eines perfekten Menschen" in sich vereinigte.
Ich selbst bin in Washington in jüngster Zeit mit obszönen und drohenden Anrufen von Muslimen bombardiert worden, in denen meiner Familie Strafe angekündigt wurde, weil ich nicht bereit war, mich an einer Lügen-, Hass- und Gewaltkampagne gegen das demokratische Dänemark zu beteiligen. Doch als meine Frau einmal versehentlich einen größeren Geldbetrag auf dem Rücksitz eines Taxis liegen ließ, fand der sudanesische Taxifahrer unter größter Mühe heraus, wem das Geld gehörte, und brachte es uns in voller Höhe bis an die Haustür zurück. Als ich den geschmacklosen Fehler beging, ihm zehn Prozent des Betrags anzubieten, stellte er unmissverständlich klar, dass er für die Erfüllung seiner islamischen Pflicht keine Gegenleistung erwarte.
Auf welche dieser beiden Versionen des Glaubens soll man sich nun verlassen?

Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten. Mir ist es lieber, Evelyn Waughs Prosa steht in meinem Regal, so wie sie ist, und ich weiß, dass die Romane nicht ohne die Qualen und Sünden des Autors zu haben sind. Und wenn sich alle Muslime verhielten wie der Mann, der einen guten Wochenlohn in den Wind schlug, nur um das Richtige zu tun, dann wären mir die bizarren Vorgaben des Korans völlig gleichgültig. Wenn ich mein eigenes Leben auf gute Taten und großzügiges Verhalten abklopfe, komme ich auf kein überwältigendes Ergebnis. In Sarajevo nahm ich mir einmal, zitternd vor Angst, meine kugelsichere Weste ab und überließ sie einer Frau, die ich mit in Sicherheit bringen sollte und die noch mehr Angst hatte als ich – übrigens bestimmt nicht das einzige Beispiel dafür, dass es in Schützengräben sehr wohl Atheisten gibt. Damals meinte ich, es sei das Mindeste, was ich für sie tun könne, und zugleich das Beste. Diejenigen, die uns mit Granaten und Gewehren beschossen, waren übrigens serbische Christen, aber das war sie ja auch.

Im Norden Ugandas saß ich Ende 2005 in einem Rehabilitationszentrum für entführte und versklavte Kinder im Lande der Acholi, die nördlich des Nils leben. Um mich herum waren lauter lustlose, leere und verhärtete kleine Jungs (und auch ein paar Mädchen). Ihre Geschichten glichen einander auf schreckliche Weise. Milizionäre mit versteinerten Gesichtern, die ihrerseits als Kinder entführt worden waren, hatten sie im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren aus ihren Schulen oder Häusern weggefangen. Man brachte sie in den Busch und machte sie in einer gewaltsamen "Initiation" zu Mitgliedern der Truppe. Es gab zwei Methoden: entweder sie mussten sich selbst an einem Mord beteiligen, sich "schmutzig machen" und so zu Komplizen werden, oder man peitschte sie brutal aus, häufig mit bis zu dreihundert Hieben. "Kinder, die solche Grausamkeiten am eigenen Leib erlebt haben," sagte einer der Stammesältesten der Acholi, "bringen es leicht fertig, sie anderen zuzufügen." Das Leid, das diese Armee aus zu Zombies mutierten Knirpsen über die Menschen brachte, ist unermesslich. Die Kinder zerstörten Dörfer, trieben einen Teil der Bevölkerung in die Flucht, verstümmelten Menschen, schlitzten ihnen den Bauch auf (die ursprünglich von einem Jesuitenmönch gegründete Rebellenbewegung ... something called 'hell files'", but: "e-entreculturas is the electronic bulletin of Entreculturas, a Foundation promoted by the Society of Jesus, which believes in education as a means for social change, justice and intercultural dialogue") und entführten – eine besonders raffinierte Nuance des Bösen – andere Kinder, weshalb sich die Acholi mit Gegenmaßnahmen zurückhielten, um nicht einer ihrer eigenen Angehörigen umzubringen oder zu verletzen.

Diese "Lord's Resistance Army" ("Widerstandsarmee des Herrn", kurz LRA) wurde von einem Mann namens Joseph Kony angeführt, einem ehemaligen Messdiener, der das Gebiet unter die Herrschaft der Zehn Gebote stellen wollte. Er taufte mit Öl und Wasser, veranstaltete grausame Bestrafungs- und Reinigungszeremonien und versicherte seine Anhänger gegen den Tod. Sein Christentum war fanatisch. Auch das Rehabilitationszentrum, in dem ich saß, wurde von einer fundamentalistischen christlichen Organisation betrieben. Nachdem ich in den Busch gegangen und mir die Arbeit der LRA angesehen hatte, kam ich mit dem Mann, der die Schäden zu beheben versuchte, ins Gespräch. Wie könne er wissen, fragte ich ihn, welcher von ihnen den aufrichtigeren Glauben habe? Jede säkulare oder staatliche Organisation könne leisten, was er tat – Prothesen anpassen, Schutz bieten, beraten – doch um ein Joseph Kony zu sein, müsse man doch sicher den wahren Glauben besitzen?
Zu meiner Überraschung tat er meine Frage nicht ab. Ja, sagte er, Kony beziehe seine Autorität zum Teil daraus, dass er aus einer christlichen Predigerfamilie stammte. Die Leute glaubten auch tatsächlich, er könne Wunder vollbringen, denn er rief die Geisterwelt an und versprach seinen Anhängern Immunität gegen den Tod. Selbst von denen, die ihm davongelaufen waren, schworen einige noch immer, dass sie den Mann hatten Wunder vollbringen sehen. Ein Missionar könne nur versuchen, den Menschen ein anderes Bild vom Christentum zu vermitteln.

Die Offenheit des Mannes beeindruckte mich. Er hätte auch anders argumentieren können.
Joseph Kony ist vom christlichen "Mainstream" meilenweit entfernt. Seine Zahlmeister und Waffenlieferanten sind die zynischen Muslime des sudanesischen Regimes, die ihn benutzen, um die Regierung von Uganda zu reizen, die wiederum die Rebellengruppen im Sudan unterstützte. Kony untersagte dafür das Halten und Verzehren von Schweinen, was, wenn er auf seine alten Tage nicht gerade fundamentalistischer Jude geworden ist, als Zugeständnis an seine Geldgeber verstanden werden muss. Diese sudanesischen Mörder führen wiederum seit Jahren einen Vernichtungskrieg nicht nur gegen die Christen und Animisten im Südsudan, sondern auch gegen die nichtarabischen Muslime der Provinz Darfur. Offiziell unterscheidet der Islam nicht zwischen Rassen und Nationen, doch die Schlächter in Darfur sind arabische Muslime, ihre Opfer afrikanische Muslime.
Die "Lord's Resistance Army" eröffnet in diesem großen Horrorszenario nichts anderes als einen christlichen Nebenkriegsschauplatz nach Art der Roten Khmer.

Ein noch plastischeres Beispiel liefert Ruanda, das der Welt 1992 ein neues Synonym für Völkermord und Sadismus präsentierte. Die ehemalige belgische Kolonie ist das christlichste Land Afrikas mit dem höchsten Anteil an Kirchen pro Kopf der Bevölkerung. 65% der Ruander sind römisch-katholisch, weitere 15% gehören einer der vielen protestantischen Religionsgemeinschaften an. Der Ausdruck "pro Kopf" nahm 1994 eine makabre Bedeutung an, als die rassistischen Milizen der Hutu-Power, angestachelt von Staat und Kirche, gezielt über ihre Nachbarn, die Tutsi, herfielen und sie massenhaft abschlachteten.

Das war kein atavistischer Blutrausch, sondern die kaltblütig geplante afrikanische Version der Endlösung, die schon geraume Zeit in Vorbereitung gewesen war.
Eine frühe Warnung gab es im Jahr 1987, als ein katholischer Visionär damit prahlte, Stimmen und Visionen der Jungfrau Maria gewahr zu werden. Diese Bilder waren erschütternd blutig, prophezeiten Massaker und die Apokalypse, aber auch – wie zum Ausgleich – die Rückkehr Jesu Christi am Ostersonntag 1992. Marienerscheinungen auf einem Hügel namens Kibeho wurden von der katholischen Kirche untersucht und anerkannt. Die Frau des ruandischen Präsidenten, Madame Agathe Habyarimana, war besonders fasziniert von diesen Visionen. Sie unterhielt eine enge Beziehung zum Bischof der ruandischen Hauptstadt Kigali, Monsignor Vincent Nsengiyumva, der überdies Mitglied des Zentralkomitees von Präsident Habyarimanas herrschender Partei MRND war (Nationale Revolutionäre Bewegung für den Fortschritt). Die MRDN verhaftete, gemeinsam mit anderen staatlichen Organen, gern missliebige Frauen als "Prostituierte" und ermutigte katholische Aktivisten, Geschäfte zu verwüsten, in den Verhütungsmittel verkauft wurden. Mit der Zeit sprach es sich herum, dass die Prophezeiung erfüllt werde und dass die "Schaben", wie die Tutsi-Minderheit genannt wurde, bald bekommen würden, was ihnen zustand.

Als das apokalyptische Jahr 1994 anbrach und die geplanten und koordinierten Massaker begannen, waren viele eingeschüchterte Tutsi und Hutu-Dissidenten so unklug, in Kirchen Schutz zu suchen. Das erleichterte den Interahamwe, den Todesschwadronen von Regierung und Militär, ihre Aufgabe erheblich, denn sie wussten, wo sie suchen mussten, und konnten sich darauf verlassen, dass die Priester und Nonnen ihnen den Weg wiesen. Deshalb befinden sich auch so viele der Massengräber, die seither fotografiert wurden, auf geweihtem Boden, und aus dem gleichen Grund sitzen so viele Priester und Nonnen auf den Anklagebänken der ruandischen Völkermordprozesse. Der berüchtigte Pater Wenceslas Munyeshyaka beispielsweise, katholischer Priester in der Kathedrale Sainte Famille in Kigali, wurde von einem französischen Priester außer Landes geschmuggelt, danach aber wegen Völkermords, der Weitergabe von Namenslisten an die Interahamwe sowie wegen der Vergewaltigung einer jungen Flüchtlingsfrau angeklagt. Er ist keineswegs der einzige Geistliche, der sich solchen Anklagen stellen muss. Um dem Eindruck entgegenzutreten, es handle sich um einen Einzelfall, sei hier ein anderes Mitglied der ruandischen Kirchenhierarchie genannt, der Bischof von Gikongoro, der auch unter dem Namen Monsignor Augustin Misago bekannt ist. In einem ausführlichen Bericht über die grauenhaften Vorgänge heißt es: "Bischof Misago selbst wurde häufig als Sympathisant der Hutu-Power geschildert. Man hatte ihn öffentlich angeklagt, er habe Tutsi den Zugang zur Zufluchtsstätte verweigert, andere Geistliche kritisiert, weil sie "Schaben" geholfen hätten, und einen Gesandten des Vatikans, der Ruanda im Juni 1944 besuchte, gebeten, dem Papst auszurichten, er müsse "einen Ort für Tutsi-Priester finden, weil das ruandische Volk sie nicht mehr will".
Schlimmer noch: Am 4. Mai des Jahres, kurz vor der letzten Marienerscheinung in Kibeho, war der Bischof dort selbst mit einer Gruppe von Polizisten aufgetaucht. 90 Tutsi-Schulkindern, die dort für das Gemetzel festgehalten wurden, hatte er versichert, sie sollten sich keine Sorgen machen, denn die Polizei werde sie beschützen. Drei Tage später halfen die Polizisten mit, 82 dieser Kinder zu ermorden."

Schulkinder, die "für das Gemetzel festgehalten wurden" – sicherlich erinnern wir uns alle daran, wie sich der Papst von diesem nicht wiedergutzumachenden Verbrechen distanziert und die Komplizenschaft seiner Kirche eingeräumt hat? Oder auch nicht. Er hat nie ein Wort darüber verloren. Paul Rusesabagina, der Held des Films Hotel Ruanda, erinnert sich, dass Vater Wenceslas Munyeshyaka sogar seine eigene Tutsi-Mutter als "Schabe" bezeichnete. Das verhinderte allerdings nicht, dass ihm von der französischen Kirche gestattet wurde, seine "seelsorgerischen Pflichten" wieder aufzunehmen, bis er dann in Frankreich verhaftet wurde. Im Falle Bischof Misagos gab es nach dem Krieg im ruandischen Justizministerium Stimmen, die ihn gern unter Anklage gestellt hätten. Doch ein Vertreter des Ministeriums sagte: "Aber der Vatikan ist zu stark und zeigt zu wenig Bedauern, als dass wir uns an Bischöfe heranwagen könnten. Haben Sie noch nie etwas von Unfehlbarkeit gehört?" [...]

Ich war ein verhaltener Bewunderer des verstorbenen Papst Johannes Pauls II., der nach menschlichem Maßstab tapfer und aufrecht war und sowohl moralischen als auch körperlichen Mut zu zeigen vermochte. Als junger Mann engagierte er sich in seinem Heimatland für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, und in seinem späteren Leben trug er viel zur Befreiung Polens von der Sowjetherrschaft bei. Seine Amtszeit als Papst war in mancherlei Hinsicht schockierend konservativ und autoritär, doch Wissenschaft und Forschung stand er – außer wenn es um das Aids-Virus ging – aufgeschlossen gegenüber, und sogar beim Dogma zur Abtreibung machte er einige Zugeständnisse an eine "Lebensethik", der zufolge nun beispielsweise die Todesstrafe fast immer als falsch gilt.
Nach seinem Tod wurde Papst Johannes Paul u.a. zugute gehalten, wie oft er Entschuldigungen ausgesprochen hatte. Leider war die Buße für die etwa eine Million Menschen, die in Ruanda ermorden wurden, nicht darunter. Allerdings entschuldigte sich der Papst bei den Juden für den Jahrhunderte währenden Antisemitismus, bei der muslimischen Welt für die Kreuzzüge, bei den orthodoxen Christen im Osten für die zahlreichen Verfolgungen, mit denen Rom sie überzogen hatte, und er bereute auch die Inquisition. Das war wohl so zu verstehen, dass die Kirche in der Vergangenheit hauptsächlich Fehler begangen und oft kriminell gehandelt hatte, nun aber durch die Beichte von ihren Sünden befreit war und fortan wieder unfehlbar sein konnte.

Kap. 15, S. 253 ff.)
Die Vorstellung, dass sich jemand stellvertretend opfert, die sogar C.S. Lewis zu schaffen machte, ist eine weitere Verfeinerung des uralten Aberglaubens. Wieder haben wir einen Vater, der seine Liebe dadurch unter Beweis stellt, dass er seinen Sohn der Folter und dem Tod preisgibt, doch dieses Mal ist der Vater nicht darauf aus, Eindruck auf Gott zu machen. Er ist Gott und will Eindruck auf die Menschen machen.
Da stellt sich doch die Frage nach der Moral: ich erfahre von einem Menschenopfer, das, ohne dass ich es gewollt hätte, vor zweitausend Jahren stattfand, und zwar unter so grausigen Umständen, dass ich, wäre ich dort gewesen und hätte ich auch nur den geringsten Einfluss gehabt, verpflichtet gewesen wäre, es zu verhindern. Als Folge dieses Mordes werden mir nun alle Sünden vergeben, und ich darf auf das ewige Leben hoffen.

Sehen wir einmal von der Uneinigkeit zwischen den Erzählern dieser Geschichte ab und nehmen an, sie sei grundsätzlich wahr: was ergibt sich daraus? Die Folgen sind keineswegs so beruhigend, wie es auf den ersten Blick aussieht. Um in den Genuss dieses wunderbaren Angebots zu kommen, muss ich zunächst einmal akzeptieren, dass ich verantwortlich bin für die Peitschenhiebe, den Hohn und die Kreuzigung, die ich weder mit beschlossen noch mit durchgeführt habe. Ich muss mich damit einverstanden erklären, dass ich jedes Mal, wenn ich diese Verantwortung von mir weise oder wenn ich in Wort oder Tat sündige, Jesu Qualen noch verschlimmere. Zudem bin ich gehalten zu glauben, dass die Todesqualen notwendig waren, um ein älteres Vergehen zu sühnen, mit dem ich nichts zu tun habe, nämlich die Sünde des Adam.
Es nützt wenig, einzuwenden, dass Adam mit einer großen Unzufriedenheit und Neugier geschaffen wurde, die zu stillen ihm sodann untersagt wurde – das alles wurde lange vor Jesu Geburt entschieden. Meine eigene Schuld in dieser Angelegenheit ist somit "angeboren", und ich kann ihr nicht entrinnen. Allerdings wird mir noch der freie Wille zugestanden, der es mir ermöglicht, das Angebot der stellvertretenden Erlösung abzulehnen. Sollte ich mich aber dafür entscheiden, habe ich ewige Qualen vor mir, die alles, was Jesus auf Golgatha erduldete, und auch die Strafen, die für Verstöße gegen die Zehn Gebote in Aussicht gestellt wurden, bei weitem übertreffen.

Die Vorstellung, dass Jesus sterben wollte und musste und zu diesem Zweck zum Passahfest nach Jerusalem kam, und dass alle, die an seiner Ermordung beteiligt waren, unwissentlich Gottes Willen und ältere Prophezeiungen erfüllten, macht es nicht gerade einfacher, die Geschichte zu akzeptieren.
Besonders merkwürdig ist, dass Judas, der für die Verfolger die überflüssige Identifizierung des bekannten und seit längerem gesuchten Predigers übernahm, solche Verachtung erfahren sollte – sieht man einmal von der gnostischen Version ab – denn ohne Judas gäbe es keinen Karfreitag.
In einem der vier Evangelien heißt es, die Juden, die Jesus verurteilten, hätten ausgerufen: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Dieses Problem beschäftigt nicht nur die Juden oder auch die Katholiken, denen die lange Geschichte des christlichen Antisemitismus Sorge bereitet. Nehmen wir einmal mit Maimonides an, der jüdische Sanhedrin hätte diese Forderung tatsächlich erhoben. Wie konnte sie für künftige Generationen verbindlich sein?
Immerhin behauptete der Vatikan nicht etwa, manche Juden hätten Christus umgebracht. Nein, er behauptete, es seien die Juden gewesen, die seinen Tod gefordert hatten, und deshalb trage das gesamte jüdische Volk die kollektive Verantwortung dafür. Es erscheint grotesk, dass sich die Kirche erst von kurzem dazu durchringen konnte, den Vorwurf des "Gottesmordes" durch die Juden fallen zu lassen. Warum das so lange dauerte, ist leicht zu erklären. Wenn man erst einmal zugibt, dass die Abkömmlinge der Juden nichts damit zu tun haben, so lässt sich nur noch schwer erklären, warum eigentlich Christen, die ja auch nicht dabei waren, etwas damit zu tun haben sollen.

S. 256 ff.)
Wir können nicht wie die angsterfüllten Bauern der Vorzeit davon ausgehen, dass wir unsere Sünden einer Ziege aufladen und das arme Tier in die Wüste treiben. Im Volksmund ist der Begriff des "Sündenbocks" vernünftigerweise negativ besetzt. In Religionen spielen Sündenböcke dagegen eine große Rolle. [...] Wie diese Entwicklung schließlich zu einem bloßen Geschäft verkommt, wird unangenehm spürbar in Blaise Pascals Theologie, die haarscharf an der Unanständigkeit vorbeischrammt. Seine berühmte "Wette" klingt wie das Angebot eines Marktschreiers: was hast du zu verlieren? Wenn du an Gott glaubst und es einen Gott gibt, gewinnst du. Wenn du an ihn glaubst und daneben liegst – was soll’s? Ich habe mir einmal eine Antwort auf diese abgefeimte Gaunerei ausgedacht, die zweierlei Form annahm. [...]
Pascal erinnert mich an die Heuchler und Schwindler, vor denen es in der talmudisch-jüdischen Rationalisierung nur so wimmelt: verrichte am Sabbat keine Arbeit, sondern bezahle andere dafür. Du hast dem Buchstaben des Gesetzes Genüge getan – wer zählt mit? Der Dalai Lama erklärt, der Besuch einer Prostituierten sei erlaubt, wenn jemand anders bezahle. Schiitische Muslime haben die Ehe auf Zeit im Angebot: Männer erhalten gegen Geld die Erlaubnis, eine Frau mit den üblichen Schwüren für eine oder zwei Stunden zu heiraten und sich, wenn sie fertig sind, wieder scheiden zu lassen. Viele der herrlichen Bauten in Rom wären nie errichtet worden, wenn der Ablasshandel nicht so viel Gewinn abgeworfen hätte – der Petersdom wurde mit einer Art Ablass-Sonderangebot finanziert. Als der derzeitige Papst, ehemals Joseph Ratzinger, vor nicht allzu langer Zeit junge Katholiken zu einem Kirchentag einlud, versprach er den Teilnehmern den Ablass ihrer Sündenstrafen.

Dieses moralisch erbärmliche Spektakel wäre völlig überflüssig, wenn die Regeln so geartet wären, dass man sie auch befolgen kann. Doch zu den totalitären Edikten, die ihren Anfang in der Offenbarung durch eine absolute Autorität hatten, mittels Angstmache durchgesetzt werden und sich auf eine Sünde aus grauer Vorzeit beziehen, kommen Vorgaben, die zum Teil gleichermaßen unmoralisch wie unmöglich einzuhalten sind. Ein Grundprinzip des Totalitarismus ist der Erlass von Gesetzen, die nicht zu befolgen sind. Die Tyrannei, die daraus erwächst, ist noch eindrücklicher, wenn sie von einer privilegierten Kaste oder Partei ausgeübt wird, die mit Feuereifer die Aufdeckung von Verfehlungen betreibt. Ein Großteil der Menschheit hat im Verlauf ihrer Geschichte unter einer Form dieser stumpfsinnigen Diktatur gelebt, und viele tun es noch immer. Ich möchte ein paar Beispiele für Regeln nennen, die nicht befolgt werden können.
Das am Sinai erlassene Gebot, nach dem der Mensch nicht einmal daran denken darf, anderer Leute Güter zu begehren, sei als erstes Beispiel genannt. Seinen Widerhall findet es im Neuen Testament, wo es heißt, ein Mann, der eine Frau falsch ansieht, begeht bereits Ehebruch. Und seine Entsprechung findet es in dem im Islam noch geltenden und im Christentum einst gültigen Verbot, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Solche Regeln unterwerfen die Willenskraft des Menschen auf unterschiedliche Weise unsinnigen Beschränkungen. Begegnen kann man ihnen nur auf zwei Arten. Die eine ist die ständige Geißelung des Fleisches, begleitet von einem unablässigen Ringen mit "unreinen" Gedanken, die wahrhaftig sind, sobald sie im Bewusstsein oder auch nur in der Fantasie auftauchen. Die Folge sind hysterische Schuldeingeständnisse, das heuchlerische Gelöbnis sich zu bessern und die aggressive Denunziation anderer Abtrünniger und Sünder, kurz: ein spiritueller Polizeistaat. Die zweite Reaktion ist die organisierte Scheinheiligkeit: man gibt verbotene Nahrungsmittel für etwas anderes aus, verschafft sich mit einer Spende an die religiöse Obrigkeit ein wenig Freiraum, erkauft sich mit demonstrativer Orthodoxie Zeit oder zahlt Geld auf das eine Konto ein und lässt es sich auf einem anderen mit einem kleinen Aufschlag, ohne jede Wucherei natürlich, wieder auszahlen. So etwas könnten wir als spirituelle Bananenrepublik bezeichnen. Viele Theokratien, vom mittelalterlichen Rom bis hin zum modernen wahhabitischen Saudi-Arabien, haben es gleichzeitig zum spirituellen Polizeistaat und zur spirituellen Bananenrepublik geschafft.

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