September 30, 2010

Eine bis heute bewundernswerte Weitsicht



Christopher Hitchens 2007: God is not great

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S. 278-304) Die jesuitische Utopie

Das Wort "totalitär" wurde wohl erstmals von dem marxistischen Dissidenten Victor Serge verwendet, der entsetzt war über die Folgen des Stalinismus in der Sowjetunion. Die säkulare jüdische Intellektuelle Hannah Arendt, die der Hölle des Dritten Reiches entkommen war, machte den Begriff mit ihrem Buch The Origins of Totalitarianism bekannt. Dieser Begriff zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er "gewöhnliche" Formen der Tyrannei, die von ihren Untertanen lediglich Gehorsam einfordern, von absolutistischen Systemen abgrenzt, die vom Bürger erwarten, dass er ausschließlich Untertan ist, sein Privatleben und seine Persönlichkeit vollständig dem Staat oder dem obersten Führer hingibt.

Von dieser Definition ausgehend, liegt die erste Folgerung auf der Hand. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte war die Vorstellung eines totalen oder absoluten Staates meist eng mit der Religion verknüpft. Ein Baron oder ein König zwang seine Untertanen dazu, Steuern zu zahlen oder in seiner Armee zu dienen, und für gewöhnlich hatte er auch Priester an der Hand, die das Volk an seine Pflichten erinnerten. Doch die wahrhaft schreckliche Tyrannei ist eine, die auch Herz und Kopf ihrer Untertanen einfordert. Seien es nun die östlichen Monarchien Chinas, Indiens oder Persiens, die Reiche der Azteken oder Inkas oder die mittelalterlichen Höfe Spaniens, Russlands oder Frankreichs: fast immer waren die Diktatoren auch Götter oder Kirchenführer. Man schuldete ihnen mehr als bloßen Gehorsam: jede Kritik an ihnen war von vornherein profan, und Millionen von Menschen lebten und starben in blanker Angst vor einem Herrscher, der sie aus einer Laune heraus zu einem Blutopfer auswählen oder zum ewigen Fegefeuer verdammen konnte. Der kleinste Verstoß gegen einen Feiertag, einen heiligen Gegenstand oder eine Vorschrift zur Sexualität, zur Ernährung oder zur sozialen Stellung konnte einen Untertanen ins Unglück stürzen.
Das totalitäre Prinzip, das häufig als systematisch beschrieben wird, zeichnet sich gleichzeitig durch Willkür aus. Die Regeln konnten sich jeden Augenblick ändern, und die Herrscher hatten den Vorteil, dass ihre Untertanen nie sicher sein konnten, ob sie gerade dem aktuellen Gesetz genügten oder nicht. Die wenigen Ausnahmen im Altertum – etwa das Athen des Perikles, mit all seinen Unzulänglichkeiten – wissen wir heute so zu schätzen, weil es sich um die seltenen Momente handelt, in denen die Menschen nicht in permanenter Angst vor einem Pharao, vor Nebukadnezar oder Darius lebten, deren Worte heiliges Gesetz waren.

Das galt auch dann noch, als das göttliche Gesetz der Despoten nach und nach moderneren Varianten Platz machte. Der Vorstellung eines utopischen Staates auf Erden, modelliert nach einem himmlischen Ideal, ist nur schwer beizukommen, und Menschen haben sich im Namen dieses Ideals zu furchtbaren Verbrechen hinreißen lassen. Einer der ersten Versuche, eine ideale paradiesische Gesellschaft zu erschaffen, in der alle Menschen gleich sind, war der von Missionaren in Paraguay gegründete totalitäre sozialistische Jesuitenstaat. Er verband ein Höchstmaß an Egalitarismus mit einem Höchstmaß an Unfreiheit und ließ sich nur mit einem Höchstmaß an Angst aufrechterhalten. Das hätte jedem, der die menschliche Spezies zu perfektionieren suchte, eine Warnung sein sollen. Doch dieser Wunsch – die Wurzel und die Quelle des totalitären Antriebs – ist im Wesentlichen ein religiöser.

George Orwell, der asketische Atheist, dessen Romane uns eine bleibende Vorstellung davon vermitteln, wie sich das Leben in einem totalitären Staat anfühlen könnte, hegte da keinerlei Zweifel. "Vom totalitären Standpunkt," schrieb er 1946 in seinem Essay "Zur Verhinderung der Literatur", "ist Geschichte eher etwas, das immer neu geschaffen statt gelehrt werden muss. Der totalitäre Staat ist praktisch eine Theokratie, und seine herrschende Klasse muss als unfehlbar erscheinen, um ihre Position zu behaupten."
Man beachte, dass er dies in einem Jahr schrieb, in dem er nach zehn Jahren Kampf gegen den Faschismus seine Geschütze stärker auf die Sympathisanten des Kommunismus ausrichtete.
Wer der totalitären Denkart anhängt, muss nicht unbedingt eine Uniform tragen und eine Keule oder eine Peitsche bei sich führen. Er muss nur seine eigene Unterwerfung wollen und sich an der Unterwerfung anderer erfreuen. Ein totalitäres System fordert nichts anderes als die unterwürfige Glorifizierung eines perfekten Führers, die Hingabe aller Privatheit und Individualität, insbesondere in Fragen der Sexualität, und die Denunzierung und Bestrafung von Sündern – zu ihrem eigenen Wohl natürlich. Das sexuelle Element ist wahrscheinlich entscheidend, denn die enge Verbindung zwischen Repression und Perversion, die schon Nathaniel Hawthorne in Der scharlachrote Buchstabe beschrieb, erschließt sich auch dem behäbigsten Beobachter.

In der frühen Menschheitsgeschichte war das totalitäre Prinzip gang und gäbe.
Die Staatsreligion gab eine umfassende und "totale" Antwort auf sämtliche Fragen, von der Stellung in der sozialen Hierarchie bis hin zu Regelungen in Sachen Ernährung und Sexualität. Sklave oder kein Sklave, der Mensch war Eigentum, und die Geistlichkeit stärkte den Absolutismus. Orwells originellste Projektion der totalitären Idee – das "Gedankenverbrechen" – war eine ständige Gefahr.
Ein unreiner Gedanke, zumal ein häretischer, konnte dazu führen, dass dem Betreffenden bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wurde. Wer beschuldigt wurde, von Dämonen besessen zu sein oder mit dem Bösen in Kontakt zu stehen, wurde unweigerlich auch verurteilt. Wie höllisch das Ganze war, erkannte Orwell schon in seiner von christlichen Sadisten geführten Schule, in der man nie wissen konnte, wann man gegen die Regeln verstoßen hatte. Egal was man tat und wie vorsichtig man auch war – dauernd holten einen Sünden ein, von denen man gar nichts wusste.
So eine grauenhafte Schule lässt man irgendwann hinter sich – traumatisiert fürs Leben, wie Millionen anderer Kinder – doch der Welt der Erbsünde, der Schuldkomplexe und des Schmerzes kann man nach religiös-totalitärer Sichtweise nicht entkommen. Nach unserem Tod erwarten uns unzählige Strafen. Extreme religiöse Totalitaristen wie Johannes Calvin, der seine furchtbare Doktrin dem Augustinus entlehnt, behaupten, dass schon vor unserer Geburt unendlich viele Strafen auf uns warten können. Vor langer Zeit sei festgelegt worden, welche Seelen erwählt werden sollen, wenn die Zeit komme, die Schafe von den Ziegen zu trennen. Gegen dieses einstige Urteil sei kein Einspruch möglich, und keine guten Werke oder Glaubensbekundungen könnten den retten, der nicht das Glück habe, auserwählt zu sein. Calvins Genf war der Inbegriff eines totalitären Staates, Calvin selbst ein Sadist, Folterer und Mörder, der Michael Servetus, einen der großen Denker und Gelehrten seiner Zeit, bei lebendigem Leib verbrennen ließ.
Welches Elend Calvins Anhängern durch die lebenslange Sorge darum auferlegt wurde, ob sie nun erwählt waren oder nicht, ist in George Eliot Adam Bede ebenso treffend dargestellt wie in einer alten englischen Satire gegen andere Sekten, von den Zeugen Jehovas bis hin zu den Brüdern von Plymouth, die waghalsig behaupteten, sie seien die Auserwählten und ihnen allein sei die genaue Zahl derer bekannt, die dem Fegefeuer entrissen würden:

"Wir sind die Reinen, auserkoren, verdammt sind alle andern.
Die dürfen in der Hölle schmoren, wir in den Himmel wandern."

Das Leben eines harmlosen, aber ängstlichen Onkels von mir wurde genau auf diese Art ruiniert. Heute gehört Calvin scheinbar einer fernen Vergangenheit an, doch diejenigen, die in seinem Namen Macht an sich rissen und ausübten, weilen unter sanfteren Bezeichnungen wie Presbyterianer und Baptisten noch unter uns. Der Impuls, Bücher zu zensieren und zu verbieten, Abweichler zum Schweigen zu bringen, Außenseiter zu verdammen, in die Privatsphäre anderer einzudringen und sich auf eine exklusive Erlösung zu berufen, liegt im Wesen des Totalitarismus. Der Fatalismus im Islam, nach dem Gott alles im Voraus festgelegt hat, bietet hier einige Abknüpfungspunkte, denn auch er leugnet die menschliche Autonomie und Freiheit gänzlich und vertritt die arrogante Überzeugung, dass sein Glaube alles umfasst, was ein Mensch wissen muss.

Als sie im Jahr 1950 die große antitotalitäre Anthologie des 20. Jh. veröffentlichten, mussten die beiden Herausgeber über den passenden Titel nicht lang nachdenken. Sie nannten sie The God That Failed (Ein Gott, der keiner war). Einen der beiden kannte ich persönlich, weil ich hin und wieder für ihn arbeitete, den britischen Sozialisten Richard Crossman. In der Einleitung zu dem Buch schreibt er:

"Für den Intellektuellen sind materielle Annehmlichkeiten verhältnismäßig unwichtig, er legt am meisten Wert auf die geistige Freiheit. Die Stärke der katholischen Kirche hat immer darin gelegen, dass sie ein kompromissloses Opfer dieser Freiheit verlangt und den geistigen Hochmut als eine Todsünde verdammt.
Der kommunistische Novize, der seine Seele dem kanonischen Gesetz des Kremls unterwirft, empfand etwas von der Erlösung, die der Katholizismus ebenfalls den vom Vorrecht der Freiheit ermatteten und geplagten Intellektuellen bringt."

Das einzige Buch, das bereits im Vorfeld, nämlich ganze 30 Jahre davor, vor dieser Entwicklung gewarnt hatte, war ein schmales, aber hervorragendes Bändchen, das 1919 unter dem Titel The Practice and Theory of Bolshevism herauskam (Die Praxis und Theorie des Bolschewismus). Lange bevor Arthur Koestler und Richard Grossman im Rückblick die Trümmer begutachteten, wurde darin mit einer bis heute bewundernswerten Weitsicht die gesamte Katastrophe vorhergesagt. Der sarkastische Analyst der neuen Religion, Bertrand Russell, war als Atheist weitaus hellsichtiger als viele naive "christliche Sozialisten", die in Russland die Anfänge eines neuen irdischen Paradieses zu erkennen meinten. Seine Weitsicht überstieg auch die der anglikanischen Kirche seines Heimatlandes England, wo die anerkannte überregionale Zeitung, die Londoner Times, die russische Revolution aus den Protokollen der Weisen von Zion erklärte. Diesen ungeheuerlichen, von russisch-orthodoxen Geheimpolizisten fabrizierten Text legte übrigens die offizielle Druckerei der anglikanischen Kirche, Eyre & Spottiswoode, neu auf.
Wenn man bedenkt, wie lange die Religionen schon Diktaturen auf Erden zuarbeiten und die absolute Kontrolle im Jenseits ankündigen, wie sind sie da mit den "säkularen" totalitären Regimen unserer Zeit umgegangen? Betrachten wir zunächst in dieser Reihenfolge den Faschismus, den Nationalsozialismus und den Stalinismus.

Die Bewegung des Faschismus, Vorläufer und Modell des Nationalsozialismus, glaubte an eine organische und korporative Gesellschaft mit einem Führer – die Fasces, das um eine Axt gebundene Rutenbündel der Liktoren im alten Rom, symbolisierten Einheit und Autorität. Die aus dem Elend des Ersten Weltkriegs und einem Gefühl der Erniedrigung erstandenen faschistischen Bewegungen wollten die traditionellen Werte gegen den Bolschewismus verteidigen und hielten Nationalsozialismus und Frömmigkeit hoch. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sie zuerst und mir besonderer Inbrunst in katholischen Ländern auftauchten, und ganz sicher ist es kein Zufall, dass die katholische Kirche dem Faschismus als Idee allgemein wohlwollend gegenüberstand. Die Kirche betrachtete den Kommunismus als ihren Todfeind, zumal sie in den höchsten Rängen von Lenins Partei auch noch ihren alten jüdischen Feind sitzen sah. Benito Mussolini hatte in Italien kaum die Macht an sich gerissen, als der Vatikan mit den Lateranverträgen von 1929 schon ein offizielles Bündnis mit ihm einging. Diese Verträge regelten, dass der Katholizismus zur einzigen anerkannten Religion in Italien wurde und eine monopolistische Macht über Fragen wie Geburt, Ehe, Tod und Ausbildung erhielt. Im Gegenzug drängte er seine Anhänger, Mussolinis Partei zu wählen. Papst Pius XI. befand, den Duce ("Führer") habe die Vorsehung geschickt. Wahlen spielten zwar in Italien auf lange Zeit keine Rolle mehr, doch die Kirche betrieb die Auflösung katholischer Zentrumsparteien und unterstützte eine Pseudopartei namens "Katholische Aktion", die in mehreren anderen Ländern Nachahmer fand. In ganz Südeuropa war die Kirche ein verlässlicher Verbündeter der Faschisten und half bei der Einsetzung faschistischer Regimes in Spanien, Portugal und Kroatien. General Franco in Spanien durfte seine Invasion und die Absetzung der gewählten Regierung mit dem großartigen Titel La Crujada, "Kreuzzug" verbrämen. Mussolinis Versuch, mit einem Einmarsch in Libyen, Abessinien (heute Äthiopien) und Albanien einen Abklatsch des Römischen Reichs zu errichten, wurde vom Vatikan unterstützt oder zumindest nicht kritisiert. Immerhin lebten in diesen Ländern entweder Nichtchristen oder wie in Osteuropa die falschen Christen. Den Einsatz von Giftgas und andere grausame Maßnahmen in Abessinen rechtfertigte Mussolini gar mit dem Hinweis auf das hartnäckige Festhalten seiner Bewohner am Monophysitismus, der die eine Natur Christi betont und von Papst Leo und dem Konzil von Chalkedon 451 verdammt worden war.

In Mittel- und Osteuropa stellte sich die Lage kaum besser dar. Der Militärputsch der extremen Rechten in Ungarn unter Admiral Horthy wurde von der Kirche ebenso begrüßt wie ähnliche faschistische Bewegungen in der Slowakei und in Österreich. (Das nationalsozialistische Marionettenregime in der Slowakei wurde sogar von dem Geistlichen Jozef Tiso geführt.)
Der österreichische Kardinal begrüßte begeistert den "Anschluss" seines Landes durch Hitler.
In Frankreich eignete sich die extreme Rechte den Slogan "Meilleur Hitler que Blum" an – lieber wollte man den deutschen rassistischen Diktator als den gewählten französischen sozialistischen Juden. Katholische Faschistenorganisationen wie Charles Maurras' Action Francaise und das Croix de Feu kämpften mit aller Macht gegen die französische Demokratie und machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung, wodurch sich der Niedergang, der Frankreich seit der Aufhebung des Urteils gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus im Jahr 1899 erfasst hatte, ungehindert fortsetzte. Als die Deutschen Frankreich eroberten, halfen diese Kräfte eifrig bei der Verhaftung und Ermordung französischer Juden sowie bei der Deportation vieler weiterer Franzosen in die Zwangsarbeit. Das Vichy-Regime machte Zugeständnisse an die Geistlichkeit, indem es den Wahlspruch von 1789 – Liberté, Egalité, Fraternité – aus der Öffentlichkeit verbannte und durch das christliche Ideal Famille, Travail, Patrie ersetzte. Selbst in einem Land wie England, in dem sich die Sympathie für den Faschismus in Grenzen hielt, zog er dank katholischer Intellektueller wie T.S. Eliot und Evely Waugh in durchaus respektablen Kreisen ein ansehnliches Publikum an.

Die Blauhemdbewegung General O'Duffys im angrenzenden Irland, die zur Unterstützung Francos Freiwillige nach Spanien schickte, war völlig von der katholischen Kirche abhängig. Noch im April 1945 setzte sich Präsident Éamon de Valera, nachdem er die Nachricht vom Tod Hitlers erhalten hatte, seinen Zylinder auf, ließ seine Staatskarosse vorfahren und begab sich zur deutschen Botschaft in Dublin um zu kondolieren.
Diese und ähnliche Haltungen führten dazu, dass eine ganze Reihe katholisch dominierter Staaten von Irland bis Spanien den Vereinten Nationen nach deren Gründung zunächst nicht beitreten durften. Die Kirche hat sich bemüht, sich dafür zu entschuldigen, doch ihre Komplizenschaft mit dem Faschismus ist ein bleibender Makel in ihrer Geschichte. Dabei handelte es sich nicht so sehr um ein kurzfristiges Engagement, sondern vielmehr um eine feste Allianz, die erst zerbrach, als die faschistische Ära ihrerseits Geschichte geworden war.

Die Kapitulation der Kirche vor dem deutschen Nationalsozialismus verlief ungleich komplizierter, war aber kaum erhebender. Obwohl der Vatikan zwei wichtige Prinzipien mit Hitlers Bewegung gemein hatte – den Antisemitismus und den Antikommunismus – war ihm bald klar, dass der Nationalsozialismus auch für ihn eine Gefahr darstellte. Erstens handelte es sich um eine quasiheidnische Bewegung, die langfristig das Christentum durch pseudonordische Blutriten und auf der angeblichen Überlegenheit der arischen Rasse gründende finstere Rassenmythen ersetzen wollte. Zweites strebten die Nationalsozialisten die Vernichtung der Kranken, Versehrten und Geisteskranken an, und zwar nicht unter den Juden, sondern unter den Deutschen.
Es war ein Verdienst der Kirche, dass sie die Euthanasie von deutschen Kanzeln schon sehr früh ablehnte.
Hätte sich der Vatikan durchweg vom ethischen Prinzip leiten lassen, so hätte er sich nicht die nächsten fünfzig Jahre vergeblich um eine Erklärung und Entschuldigung für seine verachtenswerte Passivität und Trägheit bemühen müssen. "Passivität" und "Trägheit" sind an dieser Stelle vielleicht sogar die falschen Begriffe.
Wer beschließt, nichts zu tun, hat eine Entscheidung getroffen und vertritt eine Linie, und die Anpassung der Kirche in Form einer Realpolitik, deren Ziel es war, nicht etwa den Nationalsozialismus zu besiegen, sondern sich darin einzurichten, lässt sich leicht nachweisen und erklären.

Die erste diplomatische Übereinkunft, die Hitlers Regierung am 8. Juli 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung, traf, war ein Vertrag mit dem Vatikan. Im Gegenzug für die unangefochtene Kontrolle über die Erziehung katholischer Kinder in Deutschland, die Einstellung der Nazipropaganda gegen Missbrauchsfälle in katholischen Schulen und Waisenhäusern und das Zugeständnis weiterer Privilegien an die Kirche ordnete der Heilige Stuhl die Auflösung der katholischen Zentrumspartei an und befahl den Katholiken knapp, sich jeglicher politischer Aktivität in allen Bereichen zu enthalten, die das Regime für tabu zu erklären gedachte.
In der ersten Kabinettssitzung nach Unterzeichnung dieser Kapitulation sagte Hitler, diese neuen Umstände seien vor allem im Kampf "gegen das internationale Judentum besonders bedeutungsvoll". Damit hatte er völlig recht. Wahrscheinlich konnte er sein Glück gar nicht fassen: 32 Millionen Katholiken, die unter dem Dritten Reich lebten und von denen viele Widerstand gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus geleistet und große Zivilcourage bewiesen hatten, waren als politische Kraft ausgeschaltet. Ihr eigener Heiliger Vater hatte ihnen aufgetragen, dem schlimmsten Diktator der Menschheitsgeschichte freie Hand zu gewähren. Ab diesem Zeitpunkt wurden dem Staat die Kirchenbücher zugänglich gemacht, um festzustellen, wer nicht "rassisch rein" genug war, um der Verfolgung unter den Nürnberger Gesetzen zu entkommen.

Eine nicht weniger furchtbare Folge dieser Kapitulation war der moralische Kollaps der deutschen Protestanten, die einem Sonderstatus für Katholiken zuvorkommen wollten, indem sie dem "Führer" auf ihre Art entgegenkamen. Keine der protestantischen Kirchen ging allerdings so weit wie die katholische Hierarchie, die sogar Feiern zu Hitlers Geburtstag am 20. April anordnete.
Auf päpstliche Anweisung gestattete sich der Kardinal von Berlin an diesem Jubeltag zudem,

"namens der Oberhirten aller Diözesen Deutschlands Ihnen die herzlichsten Glückwünsche darzubringen.
Es geschieht dies im Verein mit den heißen Gebeten, die die Katholiken Deutschlands am 20. April an den Altären für Volk, Heer und Vaterland, für Staat und Führer zum Himmel senden."

Dieser Anweisung wurde gewissenhaft Folge geleistet.

Der Fairness halber sei erwähnt, dass diese skandalöse Tradition erst 1939 ins Leben gerufen wurde, dem Jahr also, in dem der Papst wechselte. Und der Fairness halber sei hinzugefügt, dass Papst Pius XI. stets die größten Zweifel am Hitler-System und seinem offenkundigen Hang zu radikaler Bösartigkeit hegte. So zog sich der Heilige Vater, als Hitler zum ersten Mal Rom besuchte, demonstrativ aus der Stadt in seine päpstliche Sommerresidenz zurück. Doch dieser kranke und schwache Papst war die gesamten 30er Jahre hindurch von seinem Staatssekretär Eugenio Pacelli hintergangen worden.
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass mindestens eine päpstliche Enzyklika, in der die Besorgnis über die Misshandlung der Juden Europas wenigstens andeutungsweise zum Ausdruck kam, von Seiner Heiligkeit vorbereitet, von Pacelli, der eine andere Strategie im Sinn hatte, aber zurückgehalten wurde. Heute kennen wir Pacelli als Papst Pius XII., der nach dem Tod seines Vorgängers im Februar 1939 ins Amt kam.
Vier Tage nach seiner Wahl durch das Konklave – "In jüngerer Vergangenheit waren die Sedisvakanzen relativ kurz. Nach der Wahl von Gregor XVI., der 1831 nach 50-tägigem Konklave gewählt wurde, benötigten die Kardinäle für eine Wahl nie länger als vier Tage. So gilt z.B. die Wahl von Pius XII. 1939 als eine der kürzesten der Kirchengeschichte – sie dauerte nur 20 Stunden.
Das letzte Konklave 2005 zur Wahl Benedikt XVI. dauerte 26 Stunden ab dem Einzug des Kardinalskollegiums in die Sixtinische Kapelle." – setzte Seine Heiligkeit folgenden Brief auf:

"Dem Hochzuehrenden Herrn Adolf Hitler, Führer und Kanzler des Deutschen Reiches [...]
Wir legen [...] gleich zu Beginn Unseres Pontifikats Wert darauf, Ihnen zu versichern, dass Wir dem Ihrer Obsorge anvertrauten Deutschen Volke in innigem Wohlwollen zugetan bleiben [...]
In angenehmer Erinnerung an die langen Jahre, da Wir als Apostolischer Nuntius in Deutschland mit Freude alles daran setzten, um das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im gegenseitigen Einvernehmen und hilfsbereiten Zusammenwirken beider Teile zu ordnen und zu gedeihlicher Weiterentwicklung zu bringen, richten Wir jetzt zumal auf die Erreichung solchen Zieles das ganz dringende Verlangen, welches die Verantwortung Unseres Amtes Uns eingibt und ermöglicht.
Wir geben Uns der Hoffnung hin, dass dieser Unser heißer Wunsch, der mit der Wohlfahrt des Deutschen Volkes und der wirksamen Förderung jeglicher Ordnung aufs Engste verbunden ist, mit Gottes Hilfe zu glücklicher Verwirklichung gelange."

Sechs Jahre nach diesem bösartigen und törichten Brief stand das einst wohlhabende und zivilisierte deutsche Volk vor Schuttbergen, während die gottlose Rote Armee auf Berlin zufegte. Doch ich erwähne diese Verbindung aus einem anderen Grund. Die Gläubigen sehen im Papst den Stellvertreter Christi auf Erden und den Hüter der Schlüssel des heiligen Petrus. Daran dürfen sie natürlich gern glauben und auch daran, dass Gott entscheidet, wann er die Amtszeit des einen Papstes beenden oder, was wichtiger ist, die Amtszeit eines anderen beginnen lassen möchte. Dies würde bedeuten, dass man den Tod eines nazifeindlichen und den Amtsantritt eines nazifreundlichen Papstes wenige Monate vor Hitlers Einmarsch in Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs als Folge des göttlichen Willens betrachten müsste. Wenn man sich diesen Krieg genauer ansieht, so wird man feststellen, das 25% der SS-Mitglieder praktizierende Katholiken waren und dass keinem Katholiken wegen seiner Beteiligung an Kriegsverbrechen je mit der Exkommunizierung gedroht wurde. (Joseph Goebbels wurde exkommuniziert, doch das war bereits früher, und er hatte es sich selbst zuzuschreiben, denn er hatte sich des Vergehens schuldig gemacht, eine Protestantin zu heiraten.)
Kein Mensch und keine Institution ist vollkommen – das ist klar. Aber es gibt wohl keinen beeindruckenderen Beweis dafür, dass geweihte Institutionen von Menschen gemacht sind.
Die Zusammenarbeit wurde nach dem Krieg fortgesetzt, als der Vatikan gesuchte Naziverbrecher über die berüchtigten "Rattenlinien" nach Südamerika verschwinden ließ. Der Vatikan, der Pässe, Dokumente und Geld besorgen sowie Kontakte herstellen konnte, kümmerte sich um das Fluchtnetz und alles, was für Unterkunft und Unterhalt am Zielort notwendig war. Als wäre das nicht schon schlimm genug, kollaborierte der Vatikan in diesem Zusammenhang auch mit den ultrarechten Diktaturen der südlichen Hemisphäre, die zum überwiegenden Teil nach faschistischem Modell organisiert waren.
Flüchtige Folterer und Mörder wie Klaus Barbie machten häufig eine zweite Karriere als Diener solcher Regime, die bis zu ihrem beginnenden Zusammenbruch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. eine stabile Beziehung gegenseitiger Unterstützung mit dem katholischen Klerus vor Ort unterhielt. So überdauerte die Verbindung zwischen Kirche und Faschismus sowie Nationalsozialismus das Dritte Reich. [...]

Wer der Religion die "säkulare" Tyrannei gegenüberstellt, hofft darauf, dass beides vergessen wird: die enge Beziehung zwischen den christlichen Kirchen und dem Faschismus sowie die Kapitulation der Kirchen vor dem Nationalsozialismus. Das behaupte nicht nur ich – die Kirchenführungen haben es auch eingeräumt.
Wie miserabel ihr Gewissen in diesem Punkt ist, illustriert ein Zitat, das sich hartnäckig hält. Auf religiösen Websites und in religiöser Propaganda stößt man immer wieder auf eine Aussage, die Albert Einstein 1940 gemacht haben soll:

"Da ich die Freiheit schätze, erwarte ich, als die Revolution nach Deutschland kam, dass die Universitäten sie verteidigen würden, denn sie hatten sich immer damit gerühmt, der Wahrheit verpflichtet zu sein. Aber nein, die Universitäten wurden umgehend zum Schweigen gebracht. Dann zählte ich auf die großen Zeitungen, die früher in flammenden Leitartikeln ihre Liebe zur Freiheit proklamiert hatten. Doch auch wie wurden wie die Universitäten innerhalb weniger Wochen zum Schweigen gebracht. [...] Nur die Kirche stellte sich aufrecht Hitlers Kampagne zur Unterdrückung der Wahrheit in den Weg. Ich habe nie ein besonderes Interesse an der Kirche gehabt, doch nun fühle ich eine große Zuneigung und Bewunderung, weil nur die Kirche den Mut und die Beharrlichkeit hatte, für intellektuelle Wahrheit und moralische Freiheit einzustehen.
Ich muss daher bekennen, dass ich nun rückhaltlos lobe, was ich einst verachtete.

Dieses Zitat, das – ohne verifizierbare Quelle – zum ersten Mal in der Zeitschrift Time erschien, wurde in einer landesweit übertragenen Sendung von dem berühmten Geistlichen und Fürsprecher der katholischen Kirche in den USA Fulton Sheen zitiert und ist seither im Umlauf. William Waterhouse hat nun in einem Aufsatz darauf hingewiesen, dass es überhaupt nicht nach Einstein klingt. Zum einen ist die Sprache zu blumig, zum anderen wird die Verfolgung der Juden nicht einmal erwähnt. Der besonnene und umsichtige Einstein setze sich zudem in ein törichtes Licht, wenn er behaupte, er habe etwas "verachtet", für das er "nie besonderes Interesse" hatte. Eine weitere Schwierigkeit bestehe darin, dass die Aussage in keiner Anthologie mit Einsteins schriftlichen oder mündlichen Kommentaren auftaucht. Waterhouse trieb schließlich im Einstein-Archiv in Jerusalem einen nicht veröffentlichten Brief auf, in dem der alte Mann 1947 beklagte, das Lob, das er einst einigen deutschen Kirchenmännern (nicht Kirchen) ausgesprochen habe, sei bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen worden.
Wer wissen möchte, was Einstein in den frühen Tagen von Hitlers Barbarei wirklich gesagt hat, kann es jederzeit nachlesen. Z.B. Folgendes:

"Ich hoffe, dass in Deutschland bald gesunde Verhältnisse eintreten werden und dass dort in Zukunft die großen Männer wie Kant und Goethe nicht nur von Zeit zu Zeit gefeiert werden, sondern dass sich auch die von ihnen gelehrten Grundsätze im öffentlichen Leben und im allgemeinen Bewusstsein durchsetzen."

Daraus geht deutlich hervor, dass Einstein auch hier seinen "Glauben" aus der Tradition der Aufklärung bezog. Wer den Mann, der uns eine neue Theorie des Universums geschenkt hat, in ein falsches Licht stellen möchte – aber auch wer schwieg, während seine jüdischen Mitbürger deportiert und vernichtet wurden, oder sich gar daran beteiligte – den wird wohl noch der eine oder andere Gewissensbiss plagen.

Lenin und Trotzki waren fraglos überzeugte Atheisten. Sie meinten, religiöse Illusionen könnten durch politische Akte zerstört und das unanständig große Vermögen der Kirche enteignet und verstaatlicht werden. Einige der Bolschewiken betrachteten, wie schon einzelne Jakobiner 1789, die Revolution als eine Art Alternativreligion, die Verbindungen zu Erlösungsmythen und Messianismus aufwies. Für Josef Stalin, der in Georgien ein Priesterseminar besucht hatte, stand letztendlich die Machtfrage im Vordergrund. "Wie viele Divisionen," lautet eine berühmte und dumme Frage, die er gern stellte, "hat der Papst?" (Die einzig richtige Antwort auf seine sarkastische Fangfrage lautet: "Mehr als Sie glauben.") [...]
In Polen bedienten sich die Nachkriegsstalinisten übrigens der gleichen Taktik, indem sie die katholische Organisation Pax Christi zuließen und ihr Sitze im Warschauer Parlament zugestanden, sehr zur Freude katholischer Kommunisten wie Graham Greene. [...]
Der große Dichter Czeslaw Milosz formulierte es in seinem antitotalitären Klassiker Verführtes Denken so:

"Ich hatte unter meinen Freunden viele Christen – Polen, Franzosen und Spanier – die auf politischem Gebiet eine strenge stalinistische Orthodoxie vertraten, dabei aber einen inneren Vorbehalt machten. Sie glaubten nämlich, Gott werde, wenn die Bevollmächtigten der Geschichte ihre blutigen Urteile vollzogen hätten, schon alles wieder zum Guten lenken.
Sie gingen in ihren Überlegungen ziemlich weit: die geschichtliche Entwicklung, so dachten sie, verläuft nach unumstößlichen Gesetzen, die nach Gottes Willen sind. Eines dieser Gesetze ist der Klassenkampf. Das 20. Jh. ist das Jahrhundert des siegreichen Kampfes des Proletariats, das bei diesem Kampfe von der kommunistischen Partei angeführt wird. Der Führer der kommunistischen Partei ist Stalin, er erfüllt das Gesetz der Geschichte, handelt also nach dem Willen Gottes, und daher ist man ihm Gehorsam schuldig.
Die Erneuerung der Menschheit ist nur nach dem in Russland herrschenden Vorbild möglich, darum darf der Christ nicht gegen die eine Idee auftreten – selbst wenn in ihrem Namen Grausamkeiten begangen werden – die auf dem ganzen Planeten eine neue Menschengattung erschaffen wird. Diese Argumente werden häufig auch öffentlich von jenen Geistlichen vorgebracht, die ein Werkzeug in der Hand der Partei sind. "Christus ist der neue Mensch. Der neue Mensch ist der Sowjetmensch. Folglich ist Christus ein Sowjetmensch!" So hat der rumänische Patriarch Justinian Marina gesagt."

Sicher, Männer sie Marina waren abscheulich und erbärmlich. Doch so ein Vorgehen ist im Prinzip nicht schlimmer als die unzähligen Pakte zwischen Kirche und Reich, Kirche und Monarchie, Kirche und Faschismus, Kirche und Staat, die allesamt damit gerechtfertigt wurden, die Gläubigen müssten um der "höheren" Ziele willen zeitliche Allianzen eingehen, dem Kaiser geben, was des Kaisers ist – die Worte Zar und Kaiser haben ja mit dem lateinischen Caesar eine gemeinsame Wurzel – selbst wenn der gottlos sei.

Ein Politikwissenschaftler oder Anthropologe versteht auf Anhieb, was die Herausgeber und Beiträger des Bandes Ein Gott der keiner war in solch unsterbliche säkulare Prosa gossen: in Gesellschaften, die, wie sie sehr gut wussten, mit Glaube und Aberglaube durchsetzt waren, negierten die kommunistischen Absolutisten die Religion nicht etwa, sondern sie versuchten, sie zu ersetzen. Die feierliche Erhöhung unfehlbarer Führer, die eine Quelle endlosen Glücks und Segens waren, die permanente Suche nach Häretikern und Schismatikern, die Mumifizierung verstorbener Führer als Ikonen und Reliquien, die grausigen Schauprozesse, die mittels Folter unglaubwürdige Geständnisse entlockten: all das war vor dem Hintergrund der Tradition nur allzu leicht zu durchschauen. Das gilt auch für die Pest- und Hungerzeiten, in denen frenetisch nach allen möglichen Urhebern gesucht wurde, nur nicht nach den wirklichen. (Die große Doris Lessing erzählte mir einmal, sie sei aus der kommunistischen Partei ausgetreten, als sie herausfand, dass Stalins Inquisitoren die Museen der russisch-orthodoxen Kirche und des Zarismus geplündert und die alten Folterinstrumente wieder zum Einsatz gebracht hatten.) Und unschwer zu durchschauen ist es auch, wenn permanent eine strahlende Zukunft heraufbeschworen wird, die alle Verbrechen rechtfertigen und alle kleinlichen Zweifel ausräumen werde. "Extra ecclesiam, nulla saulus" – außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. "In der Revolution ist alles erlaubt," sagte Fidel Castro gern, "außerhalb der Revolution nichts." In Castros Peripherie entwickelte sich tatsächlich eine bizarre Mutation, die mit dem Oxymoron "Befreiungstheologie" bezeichnet wird. Priester und manchmal auch Bischöfe entwickelten "alternative" Liturgien, in denen die lächerliche Vorstellung verbreitet wird, Jesus von Nazareth sei in Wahrheit Sozialist gewesen. Aus guten wie schlechten Motiven – Erzbischof Romero aus El Salvador war ein mutiger und prinzipientreuer Mensch, was man von manch einem Geistlichen in den nicaraguanischen "Basisgemeinden" nicht sagen kann – verwarf das Papsttum dies als Ketzerei. Hätte es doch auch den Faschismus und den Nationalsozialismus so schnell und unmissverständlich verdammt. [...]

Selbst die sanftmütigste Religion wird zugeben müssen, dass sie eine "totale" Lösung anstrebt, in der gewissermaßen ein blinder Glaube herrscht und alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens einer permanenten Überwachung von oben unterworfen sind. Diese ständige Aufsicht, die meist mit der Androhung ewiger Rache einhergeht, kehrt nicht immer die besten Menschen hervor. Um zwei augenfällige Beispiele zu nennen: einer der größten Wissenschaftler des 20. Jh., J.D. Bernal, war ein ergebener Anhänger Stalins und verschwendete einen Großteil seines Lebens damit, die Verbrechen seines Idols zu rechtfertigen. H.L. Mencken, einer der besten Religionssatiriker, war allzu begeistert von Nietzsche und sprach sich für eine Form des Sozialdarwinismus aus, der die Euthanasie und die Geringschätzung Schwacher und Kranker einschloss. Zudem hatte er ein Faible für Adolf Hitler und schrieb eine unverzeihlich wohlwollende Rezension zu Mein Kampf.
Der Humanismus hat sich für viele Verbrechen zu entschuldigen. Doch er kann das tun und seine Fehler sogar korrigieren, ohne dabei das Fundament eines unabänderlichen Glaubenssystems zu erschüttern oder infrage zu stellen. Totalitäre Systeme, egal welcher Form, sind fundamentalistisch und, wie wir heute sagen würden, "faith-based", also religiös.

In ihrer maßgeblichen Studie zum Phänomen des Totalitarismus hatte Hannah Arendt durchaus Grundsätzliches zu sagen, als sie sich ausführlich mit dem Antisemitismus befasste. Die Vorstellung, dass eine Gruppe von Menschen – sei sie nun als Nation oder als Religion definiert – für alle Zeiten und unrettbar verdammt sein könnte, war und ist im Wesentlichen eine totalitäre. Es ist grauenhaft faszinierend, dass Hitler seine Karriere begann, indem er dieses wahnsinnige Vorurteil propagierte, und dass Stalin am Ende sowohl Opfer als auch Befürworter dieser Wahnidee war. Doch zuvor hatte die Kirche den Virus Jahrhunderte lang am Leben gehalten.
Der heilige Augustinus hatte eine ausgeprägte Vorliebe für den Mythos des Ewigen Juden und die Vorstellung, dass das Exil der Juden als Beweis für die göttliche Gerechtigkeit zu werten sei. Auch die orthodoxen Juden sind nicht frei von Schuld. Mit der Behauptung, in einem besonderen Bund mit dem Allmächtigen "erwählt" worden zu sein, forderten sie Hass und Misstrauen geradezu heraus und legten eine eigene Form des Rassismus an den Tag.
Es sind aber vor allem die säkularen Juden, die von den totalitären Regimen mit Hass verfolgt wurden und werden, sodass es ohnehin unsinnig wäre, das Opfer zum Sündenbock machen zu wollen. Der Jesuitenorden nahm bis ins 20. Jh. nur Männer auf, die nachweisen konnten, dass über mehrere Generationen hinweg kein jüdisches Blut in ihrer Familie geflossen war. Der Vatikan predigte, alle Juden trügen die Verantwortung für den Gottesmord. Die französische Kirche stachelte den Mob gegen Dreyfus und "die Intellektuellen" auf. Der Islam hat "den Juden" nie verziehen, dass sie Mohammed kennen lernten und ihn nicht als den authentischen Gottesboten akzeptierten. Da die Religion in ihren heiligen Schriften so viel Wert auf Stammeszugehörigkeit, Dynastie und rassische Herkunft legte, muss sie die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie eines der primitivsten Ammenmärchen der Menschheit über viele Generationen weitergereicht hat.

[Jakobinismus, Marxismus, Zionismus, Bolschewismus, Nationalsozialismus und Solidarismus – it's all Jesuitism.]

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