Kultplatzbuch pt 1, pt 3, pt 4, pt 5, pt 6
Das Magnetfeld der Erde kann seit kurzem durch neuentwickelte Geräte sauber bestimmt werden. Aber wie die Magnetfelder auf Menschen wirken, wissen wir noch nicht. Schon der Frage nachzugehen, ob sie von Menschen überhaupt wahrgenommen werden können – von einzelnen vielleicht stärker als von anderen – löst heftigste Diskussionen und Anfeindungen der "positivistisch denkenden Wissenschaftler" aus, die Betz in die Okkultecke drängen wollen, seine Forschungen als "Hexenanbetung" bezeichnen oder ihm mit "eiskaltem Schweigen" begegnen. Denn "jeder kleinste Schritt abseits der normalen etablierten Wissenschaft wird gleich negativ bewertet."
Bei der Sensibilität von Tieren auf gewisse Felder darf man heute schon etwas mutiger sein. Inzwischen wissen die Gelehrten, Fischschwärme reagieren mit Hilfe elektrischer Felder, Termiten errichten ihre Bauten nach dem Kompass, manche Bakterien tragen in ihren Zellen kleine Kristalle aus Eisenerz, die wie ein Magnet wirken, womit sie sich am Magnetfeld der Erde orientieren können. Tiere wie Schnecken, Muscheln, Würmer oder Tauben, die sich ebenfalls nach dem Magnetfeld richten, sind dabei noch stark von den Mondphasen abhängig. [...]
Als im Sommer 1988 eine gewaltige Gaseruption auf der Sonne das Magnetfeld der Erde vorübergehend störte, verloren Tausende von Brieftauben auf ihrem Heimflug die Orientierung. Ziellos flogen sie im Kreis herum, ließen sich schließlich bei ihren Irrflügen erschöpft irgendwo auf Terrassen und Balkonen nieder.
Doch noch vor 15 Jahren wäre ein Biologe, der behauptete, Tiere seien magnetfeldempfindlich, "in die esoterische Schublade gepackt worden."
Bei den Tieren darf man weiter forschen, bei den Menschen nicht. Bei den Tieren sind es "extreme Fähigkeiten biologischer Systeme, die auf delikate, feine äußere Signale raffiniert reagieren," bei den Menschen "okkulte Phänomene".
Ist es so einfach?
Forscher der Universität erbrachten den "überraschenden Nachweis", dass Erdmagnetismus menschliche Körperfunktionen beeinflusst. Im US-Bundesstaat Texas musste eine Hochspannungsleitung erstmals nach einem Gerichtsurteil verlegt werden.
S. 27 f.)
Auch den Zeitgenossen Isaac Newtons war dessen Entdeckung unheimlich. Bis heute weiß man nicht, was Schwerkraft eigentlich ist, aber – Gott sei Dank – gibt es wenigstens handfeste Formeln, wie sie wirkt. Newton wies nach, dass dieselben Kräfte, die den Apfel vom Baum fallen lassen, auch die Himmelskörper in ihren Bahnen halten. So war auch der Himmel messbar geworden, und die Götter waren vertrieben. Descartes: Die Methode der Naturwissenschaft ist die "Austreibung der Geister aus der Natur".
Der Vater der "Neuen Wissenschaft", Galilei, hatte rund 80 Jahre zuvor die technologische Fortschrittsspirale in Gang gesetzt mit der Forderung: Alles, was messbar ist, messen. Alles, was nicht messbar ist, messbar machen. Mit der Folge, dass alles, was nicht messbar gemacht werden kann, abgeleugnet wird.
Da erscheint es geradezu tollkühn, [...] Ergebnis der von 1976 bis 1980 in Skandinavien, Frankreich, England, Irland und Österreich vorgenommenen Untersuchungen an 100 Kirchen und 30 vorchristlichen Kultplätzen aus der Zeit von 3.000 v.Chr. bis 1.600 n.Chr.: Die Standortwahl des "heiligen Ortes" unterlag keineswegs dem Zufall. Vor allem im Bereich der "heiligen Zentren" von Kirchen und prähistorischen Steinsetzungen konnten "signifikante Reaktionsphänomene" festgestellt werden, Überlagerungen und Kreuzungen von Reizzonen, zu denen die Anlagen in deutlicher Lagebeziehung stünden.
S. 30 f.)
Heidnisches und Christliches mischen sich in den russischen Volksbräuchen. Zu Ostern, dem Auferstehungsfest, pilgern viele Familien zu den Gräbern ihrer Ahnen, breiten ein Tuch über den Grabstein, packen Wodka, Brot und Wurst aus – und picknicken.
Auch eine Erinnerung an heidnische Bräuche der Ahnenverehrung? Religion ist konservativ, kultisches Brauchtum beharrlich und zäh. In Russland nicht anders als bei uns.
Die Überlieferung von durch Christentum, Islam oder Buddhismus überlagerten alten Religionen wird in außereuropäischen Ländern deutlicher, wo sich Traditionen bis in unsere Zeit bewahrt haben: 1988 feierten die weißen Australier die 200jährige Inbesitznahme des fünften Kontinents. Doch andere waren schon 40.000 Jahre vor ihnen da. Die unerschöpflichen Mythen, die seit Zehntausenden von Jahren lebende Kultur der Aborigines, wurden zwar zum faszinierenden Studienobjekt von Wissenschaftlern, aber Achtung und Respekt vor den Ureinwohnern und ihrem traditionellen Glauben wachsen erst langsam.
S. 32 f.)
Eltern kamen zur bevorstehenden Geburt ihres Kindes von weit her hierhin zurück und die Alten, wenn sie ihren Tod nahen fühlten. Denn hier war "ihr" Land, ihnen von den Ahnen anvertraut, hier traten sie zu den verehrte Urzeitwesen in Beziehung, hier lebte deren spirituelle Kraft weiter.
Diese besondere Verbindung der Ureinwohner zu ihrem jeweiligen Stammesterritorium, zu ihren dortigen heiligen Plätzen, von deren Achtung der Fortbestand des Lebens abhängt, an denen seit Jahrtausenden Zeremonien in jahreszeitlichem Wechsel abgehalten wurden, deren Betreten nur eingeweihten Personen gestattet war, regelte den Landbesitz einer Gruppe, begründete den Anspruch auf ein Gebiet – auch ohne schriftliche Quellen. Land was unveräußerbares Gut, man war untrennbar damit – mit seinen Wurzeln – verbunden. Kriege wurden im alten Australien nie um Landbesitz geführt.
S. 33)
Ein Fernsehkorrespondent, der viele Jahr für die ARD aus Westafrika berichtete, behauptet, sowohl er als auch seine Familie hätten sofort gespürt, wenn sie in den zu einem afrikanischen Dorf gehörigen "heiligen Hain" kamen – auch wenn sie vorher davon nichts wussten.
Noch heute können wir in Indien oder Korea die Entstehung eines Heiligtums verfolgen. Da gibt es in der Nähe des Dorfes vielleicht einen Baum von ungewöhnlicher Größe oder Gestalt. Einer der Bewohner hat des Nachts von ihm geträumt, oder einer hat beim letzten Platzregen dort Schutz gefunden. Also geht er am nächsten Tag zum Baum zurück und legt eine Blume nieder. Denn der Baum hat Aufmerksamkeit erregt. Und da er wie Steine, Felsen, Quellen, wie die gesamte Natur belebt ist, bringt man ihm ein kleines Opfer dar. Der Mensch möchte sich dadurch die geistigen Wesen, Kräfte, Dämonen oder auch Gottheiten, die er im Baum sieht, wohlgesinnt machen. Nach dem alten Prinzip "do ut des" – ich gebe dir was, damit du mir etwas zurückgibst – erwartet er jetzt Gutes von Baumgott oder den unbestimmt gedachten Kräften: Glück, Schutz, Gesundheit, Kraft und Segen.
Auch die Familie bringt dem Baum kleine Gaben – man weiß ja nie ... spendet Weihrauch oder Wasser, kniet nieder, murmelt ein paar Worte, zündet Räucherkerzen an. Die Nachbarn sehen das. Nun, schaden kann es ja nicht, wenn man sich den Verehrungsritualen anschließt. Sie behängen die Zweige mit Blumengirlanden, bestreichen die Wurzeln des – nunmehr heiligen – Baumes mit der roten oder gelb-roten Kultfarbe.
Ein Dach zum Schutz der Gaben wird errichtet, auch der Wegesrand mit der heiligen Farbe bestrichen, der Kultbezirk vom profanen Außen abgegrenzt. Jemand macht sich die Mühe und formt einen kleinen Altar aus Lehm, steckt bunte Scherben hinein, darauf eine Blumenvase, ein Götterbild.
Die nächste Stufe: das blutige Tieropfer. Vielleicht geht es um die Ernte, den ausbleibenden Regen. Die Gemeinde versammelt sich feierlich am heiligen Baum – warum ausgerechnet an diesem, weiß kaum noch einer – schlachtet rituell ein Ferkel, bringt es symbolisch den Mächten dar und verzehrt es in einem gemeinsamen Fest.
Vorbeikommende sehen die heilige Stätte und wollen der Wohltaten teilhaftig werden. Man verbeugt sich, legt seine Gaben nieder. Nun hat nicht jeder auf seiner Wanderung Blumenketten und Räucherstäbchen bei sich. Da findet sich schnell einer aus dem Dorf, der geschäftstüchtig damit handelt. Er baut einen Verkaufsstand und – hat er Familie – eine Hütte daneben.
Das Geschäft läuft gut, am Baum wird ein Tempel errichtet, der Kultbezirk vergrößert sich. Schließlich – vom Baum ist vielleicht nichts mehr zu sehen – erhebt sich dort ein mächtiger Tempel: Nicht viel anders wird der Felsendom in Jerusalem um den heiligen Stein entstanden sein.
S. 36 ff.)
Es muss kurz vor dem Abitur gewesen sein – vor fast 25 Jahren – als wir einen Schulaufsatz über den Begriff "Heimat" schreiben sollten. Ich erinnere mich gut an unsere Hilflosigkeit. Kafka, Böll, Benn, Brecht, damit konnten wir umgehen. Interpretieren, analysieren, das hatten wir gelernt. Doch allgemein verzweifeltes Kauen auf dem Kugelschreibern zeigte, dass die gewohnte Technik versagt: "Heimat" entzog sich unseren Versuchen einer abstrakten Interpretation – und sei sie noch so geschliffen formuliert.
Zwei Wochen später die Rückgabe der Klassenarbeit. Ich weiß noch genau, wie ich mit dieser Mischung aus Stolz und Scham auf meinem Stuhl hockte, als mein "Werk" vorgelesen wurde, was für mich "Heimat" bedeutete: das Flussufer, wo wir als Kinder schwammen, der kleine Teich im Schilf, der Wald mit dem ängstlich geheimgehaltenen hohlen Baum, in dem ich besonders schöne Steine und Wurzeln versteckte, der Weg zum Friedhof, zur Urgroßmutter, die ich als Kind im Rollstuhl hatte schieben dürfen.
Diese längst vergessene Erinnerung war plötzlich da, als ich auf der Suche nach den heiligen Stätten unserer Ahnen monatelang durch Deutschland fuhr: [...] Immer wieder fand ich Stellen, die uns ruhig und still, unberührt, stolz und majestätisch oder sanft und lieblich umfangen, die noch – für ein paar Stunden – das Gefühl vermitteln, allein zu sein, allein mit der Erde, der Natur, allein mit sich.
Oder das Erntedankfest auf der Insel Reichenau im Bodensee. Obste, Gemüse, Getreide, das schönste und bunteste war vor dem Altar des Marienmünsters niedergelegt. An den Wänden lehnten die reich gefüllten Körbe und umkränzten Stöcke der Erntedankprozession. Vom Altar hing ein großes, weißes Tuch mit hohen Buchstaben: "Wir weih'n der Erde Gaben." Und: "Dank für alles." Dank für die Fruchtbarkeit – heute nicht anders als vor Tausenden von Jahren.
Oder an den Wilhelmsteinen, dem vermuteten alten Naturheiligtum in Hessen, das verwitterte Holzschild: "Die Heimat, die Schöne, zu ehren ..."
Messen, in Formeln fassen, analysieren kann man "Heimat" nicht, genauso wenig wie Religion und kultisches Brauchtum. Da hat die "Natur"wissenschaft ihre Grenze. Eine der vielen Grenzen, an die sie für jeden sichtbar nach einer Zeit fast uneingeschränkter Technikgläubigkeit gestoßen ist.
Der alttestamentliche Auftrag, "macht euch die Erde untertan" (1. Mos. 1:28), kann nicht länger als Freibrief zur rücksichtslosen Ausbeutung gedeutet werden, als ob Boden, Tiere, Pflanzen, ja das ganze All dem Menschen gehörte, auf dass er damit mache, was technisch machbar ist: immer tiefere Stollen in die Erde treiben, sie als bloßes Warenlager, als Rohstofflieferant und Müllkippe benutzen.
Diese Fortschrittsgläubigkeit, die seit der Renaissance die Entwicklung der abendländischen Kultur bestimmt hat, stößt auf Kritik. Die Technisierung unserer Welt droht in eine systematische Zerstörung unserer Lebensgrundlage umzuschlagen.
Nicht nur die ökologische Bewegung fordert daher, dass die Menschen sich wieder auf mehr Einklang mit den Zyklen der Natur besinnen sollen. Wir sind ein Teil dieser Erde, eingebunden in ihren Kreislauf von Wachsen und Vergehen.
Religion ist die Begegnung mit dem Heiligen. Unseren Ahnen war die Erde, die Natur, der Kosmos noch heilig. Die Religion, ihr Kult, fand in der offenen Natur statt, bezog sie mit ein, unter freiem Himmel, an besonders hervorgehobenen Plätzen, an Orten "mythischer Qualität", an denen unsere Vorfahren spürten, "hier hatten die Götter ihre Pfoten im Spiel," wie es der Regensburger Ordinarius für Vor- und Frühgeschichte, Prof. Walter Torbrügge, ausdrückt.
Der vorgeschichtliche Mensch begegnete der Umwelt viel persönlicher, wie ein Kind, das in Wolken und Bäumen Gesichter sieht, Dinge und Natur als belebt empfindet – wie wir es aus unseren Märchen kennen. Jeder Baum, jede Quelle hatte ihre Nymphe. Höhlen, Brunnen und Moorweiler führten in den Leib der Erde, zu den Unterirdischen, und auf den von Wolken umsäumten Berggipfeln trieben die Himmlischen ihr Wesen oder Unwesen.
Das Empfinden für diese "von Natur aus" heiligen Plätze ist uns abhanden gekommen: An Bächen, in denen keine Nymphen mehr wohnen, lassen sich gut Mühlen bauen.
Der mythisch gedachte Anfang der Welt offenbarte sich unseren Ahnen in ihren Naturheiligtümern, die nicht gegründet, sondern gefunden wurden. Auffällige Erscheinungen wie eine brodelnde Quelle, eine Bergkuppe, ein plötzlich aus dem Walddunkel herausragender Fels oder ein alter Baum, in den der Blitz eingeschlagen hatte, ließen die Nähe des Göttlichen erahnen.
Hier waren die "natürlichen" heiligen Stätten, bei denen man eher in Verbindung mit den jenseitigen Mächten trat als an anderen Plätzen, an denen über Jahrhunderte, Jahrtausende die Menschen zusammenkamen und immer wieder am selben Ort Weihegaben niederlegten, ohne dass die Generationen voneinander wissen konnten: Bitte und Dank, Furcht, Angst, das Gefühl des Ausgeliefertseins und die Suche nach Geborgenheit, Heilung, Heil. Wie es der Berliner Religionswissenschaftler Prof. Carsten Colpe ausdrückt:
S. 39)"Man gewinnt eine Art Heil in ihnen, indem man mit dem Anfang der Welt, als noch alles in Ordnung war, magisch oder auch nicht magisch in Berührung kommt. Deshalb sind sie in einer Welt, in der nicht mehr alles in Ordnung ist, nicht nur Kultstätten, sondern oft auch Asyle."
Bei der Würdigung von Erde und Natur sollte es nicht um die Auseinandersetzung von Christen und Neuen Heiden gehen, nicht um Neumissionierung, nicht um den Disput Naturwissenschaft oder Glaube, um Ökologie oder Spiritualität. Wer will behaupten, die allein richtige und seligmachende Lehre zu besitzen? Nicht für Querelen oder Verächtlichmachung ist die Zeit, sondern für ein Zusammenhalten zur Bewahrung unserer Erde, zu unserer Rettung. Nicht (nur) um einen Kilometer mehr oder weniger "naturbelassenen" Bach, nicht (nur) um eine Tonne weniger Gift im Meer, sondern um eine ehrfurchtsvolle Auffassung von Mensch und Natur, um Demut geht es: um die Philosophie, die dahintersteckt, die Religion, die Rückbindung an unsere Wurzeln, um den Weg zur Überwindung der Teilung, der Aufspaltung zwischen dem Menschen und dem, was ihn umgibt, um die Überwindung der Entfremdung zu sich selbst.
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